Christa Wirthumer-Hoche ist Leiterin des Geschäftsfelds Ages Medizinmarktaufsicht und Vorsitzende des Managementboards der Europäischen Arzneimittelagentur EMA.

Philipp von Lattorff ist Generaldirektor von Boehringer Ingelheim und seit September 2019 Präsident der Pharmig, des Verbands der pharmazeutischen Industrie Österreichs.

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STANDARD: War die Versorgung mit Medikamenten durch Corona in Gefahr?

Philipp von Lattorff: Wir haben derzeit keine Lieferschwierigkeiten. Wegen des Brexits und des chinesischen Neujahrs waren einzelne Lager von Produzenten zu Jahresbeginn gut gefüllt. Die Corona-Situation in China hat sich zum Glück bereits etwas entspannt. Im Moment stellt sich eher die Frage, wie wir die Lastwägen über die Grenzen von Italien bekommen. Wir bei Boehringer Ingelheim haben sehr viel mehr Produktionen in Europa als in China oder in Indien und haben jetzt das Problem, die Lieferungen über die Grenzen zu bekommen.

Christa Wirthumer-Hoche: Die Versorgung mit Arzneimitteln war stabil, aber der Stillstand der Produktion in China könnte immer gravierende Auswirkungen haben. Weltweit verarbeitet man Wirkstoffe, die aus Asien kommen. Sogar die indischen Hersteller beziehen die Ausgangsmaterialien aus China. Das Coronavirus hat jetzt Bewusstsein geschaffen, wie abhängig wir bei der Arzneimittelproduktion vom asiatischen Raum sind und wie fragil globalisierte Liefer- und Produktionsketten sein können.

STANDARD: Welche Medikamente betrifft das vor allem?

Lattorff: Zum größten Teil sind das Medikamente, bei denen die Patente bereits abgelaufen sind. Neue Wirkstoffe sind davon nur selten betroffen. Je älter die Produkte sind, desto niedriger sind die Preise, und umso mehr müssen wir schauen, sie günstig zu erzeugen. Da wird man dann nach China und Indien getrieben.

Wirthumer-Hoche: Darunter sind durchwegs auch kritische Arzneimittel wie Antibiotika. Deswegen sollten wir alles tun, damit die Arzneimittelproduktion, die wir noch in Europa haben, auch hierbleibt. Ich sehe die Corona-Krise auch als Chance, um alle wachzurütteln. Die Abhängigkeit vom südostasiatischen Raum hat uns in der Vergangenheit schon einige Überraschungen gebracht.

STANDARD: Welche? Sind Patienten zu Schaden gekommen?

Wirthumer-Hoche: Soweit wir es anhand der Meldungen sagen können: zum Glück nicht. Zuletzt hatten wir ein relativ weitreichendes Problem mit Nitrosamin-Verunreinigungen. Aufgepoppt ist es bei den Blutdruckmedikamenten, den Sartanen aus China.

STANDARD: Wer kontrolliert die Qualität?

Wirthumer-Hoche: Jede Charge unterliegt einer Qualitätsprüfung seitens des Zulassungsinhabers, bevor sie vermarktet wird. Seitens der Behörden gibt es stichprobenartige Untersuchungen der Arzneimittel am Markt, ob sie der Spezifikation entsprechen. Da die analytischen Methoden immer besser werden, besteht die Möglichkeit, auch kleinste Mengen an Verunreinigungen zu finden.

STANDARD: Anfang Jänner waren 230 Medikamente in Österreich nicht lieferbar. Was waren die Gründe für die Lieferengpässe?

Wirthumer-Hoche: Die Gründe für die Arzneimittelengpässe sind multifaktoriell. Durch jahrzehntelange Globalisierung der Herstellung von Arzneimitteln, aber auch durch die Fusion von kleinen und mittelgroßen Pharmaunternehmen und Herstellern zu großen Unternehmen kommt es zu einer zunehmenden Reduktion der weltweiten Produzenten und Anbieter. Dies kann in extremen Fällen auch zu einer Monopolisierung führen. Unsere Aufgabe seitens der Behörde ist es, die Transparenz in Hinblick auf die Versorgungssituation zu erhöhen, Sachverhalte zu ermitteln und alle beteiligten Akteure an einen Tisch zu bekommen, um gemeinsam Maßnahmen zu erarbeiten. Eine dieser Maßnahmen ist die Meldepflichtverordnung, die am 1. April umgesetzt wurde. Damit werden wir eine vollständige Datenbank haben, in der künftig auf Knopfdruck festgestellt werden kann, ob ein zugelassenes Produkt lieferbar ist. Die Ärzte haben bei der Verschreibung eines Arzneimittels dann die Möglichkeit, die Lieferbarkeit zu überprüfen, und können gegebenenfalls auf ein Ersatzprodukt wechseln. Damit wird verhindert, dass die Patienten in die Apotheke gehen und von dort mit leeren Händen weggeschickt werden, falls es für ein Produkt eine Vertriebseinschränkung gibt.

STANDARD: Ein Problem ist der Parallelhandel. Wie kann man verhindern, dass Medikamente außer Landes geschafft werden?

Lattorff: Der Parallelhändler macht nichts anderes, als Waren von einem EU-Land ins andere zu verschieben. Er kauft die Produkte dort, wo sie billig sind, und verkauft sie dort, wo sich höhere Preise erzielen lassen. Im Rahmen des freien Warenverkehrs ist das innerhalb der EU erlaubt. Die Parallelhändler sind die Einzigen, die daran verdienen. Weder der Patient noch die Krankenkasse noch der Erzeuger haben etwas davon. Wir sollten hier überdenken, ob der Grundwert des freien Warenverkehrs höher zu bewerten ist als die Patientenversorgung.

STANDARD: Ist ein einheitlicher Medikamentenpreis in der EU die Lösung?

Lattorff: Solange wir in Europa unterschiedliche Gesundheitssysteme und Bruttosozialprodukte haben, wird das nicht funktionieren. Preise sind sehr dynamisch und richten sich nach der Kaufkraft, den Verhandlungen mit der Sozialversicherung und auch Währungsschwankungen.

Wirthumer-Hoche: Für den Fall, dass der Bedarf der österreichischen Bevölkerung an einem bestimmten Arzneimittel nicht gedeckt werden kann – aus welchem Grund auch immer –, kann die Behörde nach Prüfung der Daten künftig ein Verbot für den Parallelexport für dieses Produkt aussprechen. Das sieht die Verordnung vor. Gerade in Zeiten der Corona-Krise ist es wichtig, dass die für Österreich bestimmte Ware auch in Österreich bleibt und die notwendigen Medikamente verfügbar sind.

STANDARD: Sind Medikamente in Österreich zu billig?

Lattorff: Wenn ein Arzneimittel exportiert wird, ist es bei uns zumindest billiger als in einem anderen EU-Land. Es kann aber auch sein, dass ein Medikament in Österreich teurer ist als in anderen Ländern. Wenn man Medikamente vom freien Warenverkehr in der EU ausnehmen könnte, hätten wir eine Lösung.

STANDARD: Trifft der Parallelexport ärmere Länder?

Wirthumer-Hoche: Wir haben hier tatsächlich einen Zug vom Süden in den Norden. Manche Länder, wie etwa Rumänien und Bulgarien, haben mit diesem Problem sehr stark zu kämpfen. Die EU-Kommission hat eingesehen, dass die Aufrechterhaltung der öffentlichen Gesundheit über dem freien Warenverkehr steht. Bevor die Versorgung in einem Land gefährdet ist, kann man Ausnahmen vom Recht auf Parallelhandel machen.

Lattorff: Der ehemalige bulgarische Gesundheitsminister wettert regelmäßig, dass die Industrie keine Krebsmittel liefert, weil die Preise so niedrig sind. Ganz das Gegenteil ist der Fall: Wir liefern die Arzneimittel nach Bulgarien, aber einen Tag später sind sie auch schon in einem anderen EU-Land.

STANDARD: Neben den Billigmedikamenten gibt es auch Innovationen, die zwei Millionen Dollar pro Patient kosten. Wie das?

Lattorff: Wenn ich 15 Jahre und zwei Milliarden Dollar in die Entwicklung eines Medikaments stecke und maximal sieben bis acht Jahre Zeit habe, die Kosten unter Patentschutz wieder reinzuspielen, dann ist der Preis nachvollziehbar. Vor allem, weil es hier auch um Medikamente für eine sehr kleine Gruppe von Patienten geht.

STANDARD: Das führt dazu, dass sich viele Firmen auf diese lukrativen Produkte konzentrieren und andere vernachlässigen, etwa Antibiotika.

Lattorff: Das hängt davon ab, welche neuen Erkenntnisse es zu bestimmten Krankheiten gibt und wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, ein Medikament auf den Markt zu bringen. Nehmen wir zum Beispiel Erkrankungen des Zentralnervensystems wie Parkinson oder Alzheimer. Hier versuchen große Unternehmen seit langem, Wirkstoffe zu finden. Doch viele Studien sind in Phase drei, wenn das Medikament an Menschen erprobt wird, negativ, und die Firmen steigen mit hohen Verlusten aus. Es ist ein hohes wirtschaftliches Risiko, in diesen Indikationen zu forschen. In der Krebstherapie ist das etwas anderes, weil man hier schon viele Mechanismen kennt, aber es gleichzeitig noch viel zu erforschen gibt. Alle großen Firmen betätigen sich hier. Darum geht in der Onkologie viel weiter, und beim Alzheimer schleppt es sich langsam dahin.

STANDARD: Soll die öffentliche Hand mehr in die Forschung investieren?

Lattorff: Ich glaube eher an Marktwirtschaft als an Planwirtschaft.

Wirthumer-Hoche: Die EU-Kommission hat dazu einige Projekte laufen. Im Augenblick ist die Industrie vor allem gefordert, einen Impfstoff und Medikamente gegen das Coronavirus zu entwickeln.

STANDARD: Wann wird es einen Impfstoff gegen Corona geben?

Wirthumer-Hoche: Die Firmen sind dabei, den Impfstoff zu entwickeln. Bis er zugelassen wird, dauert es sicher bis zu 18 Monaten. Wir hoffen, dass die schlimmste Phase der Corona-Pandemie endet, bevor die Impfungen zugelassen sind. Da aber Corona auch danach wieder aufflammen kann, ist ein Impfstoff dennoch dringend nötig.

Lattorff: So schnell wie bei Covid-19 haben sich Unternehmen noch nie auf neue Forschungsprojekte eingestellt. Zurzeit sind 79 Impfstoffkandidaten in Entwicklung, wobei es aber wahrscheinlicher ist, dass eher ein Medikament zur Behandlung gefunden werden wird. Es wäre aber eine Illusion, zu glauben, dass das in den nächsten Wochen abgeschlossen sein könnte.

STANDARD: Wie lange, glauben Sie, ist die Versorgung mit Medikamenten jetzt in der Krise gesichert?

Lattorff: China fängt wieder an zu produzieren, trotzdem sind Lieferengpässe nie ganz auszuschließen. Die Frage ist, wie man sie managt und reduziert. Wir arbeiten an der Transparenz. Die Ärzte sollten wissen, welche Medikamente lieferbar sind, damit die Patienten nicht von der Apotheke wieder zurück zum Arzt geschickt werden.

Wirthumer-Hoche: Wichtig ist, dass die Patienten jetzt Ruhe bewahren und nicht in Hamsterkäufe verfallen. Niemand muss einen Zweijahresvorrat an Arzneimitteln zu Hause haben – die Versorgung funktioniert. (Andrea Fried, CURE, 1.5.2020)