Eine "tägliche Ansammlung von rücksichtslosen Dummköpfen" sei das, was ein besorgter Bürger aus seinem Auto heraus an der Josefstädter Straße beobachtete, fotografierte und veröffentlichte. Soziale Medien sind schon lange ein öffentlicher Pranger. Nun richtet er sich immer öfter gegen jeden, der auf der Straße ist. Auch über das Bürgertelefon und den Notruf 133 kommen Meldungen wie diese herein, berichtet die Polizei.

Die sogenannten "Dummköpfe" sind Obdachlose, die keinen Ort haben, um sich zu isolieren. Und sie als solche zu bezeichnen sei, antwortet die Wiener Polizei auf die Vernaderung, "das Despektierlichste, das wir in den letzten Tagen lesen mussten".

Man muss nicht alles begrüßen, was die Polizei derzeit tut. Dass sie auch jene Menschen im öffentlichen Raum anspricht, die sich im erlaubten Rahmen bewegen, ist kritisch zu sehen. Denn es sorgt für noch mehr Unsicherheit in einer Phase, in der kaum jemand mehr weiß, was erlaubt ist. Dass die Exekutive aber nicht bei jedem vom Balkon aus beobachteten Verdachtsfall einschreitet, sondern entschieden gegen selbsternannte Bewacher auftritt, kann eine gefährliche Entwicklung aufhalten.

Polizeibeamte führen am Donaukanal Aufklärungsgespräche und Personenkontrollen durch.
Foto: APA/HERBERT P. OCZERET

Ja, vielen von uns ist fad, und aus dem Fenster zu schauen ist eine der letzten Schnittstellen zum öffentlichen Leben, die geblieben sind. Ja, die Verunsicherung ist groß, und so ist es auch der Neid, wenn ein Hundebesitzer durch die Sonne spaziert, während man selbst im Homeoffice an den Laptop gefesselt ist. Und ja, viele von uns haben Angst – vor dem Virus, vor dem Alleinsein und davor, wie lange alles so bleiben wird, wie es ist.

Aber die Vorstellung eines Spitzelstaates, in dem Bürgerinnen und Bürger sich gegenseitig beobachten und anschwärzen, in dem man bei jeder Tätigkeit besorgt sein muss, dass die Nachbarin einen anzeigt oder der Nachbar ein Foto ins Internet stellt, sollte uns ebenfalls Angst machen – mehr noch als ein Polizist, der uns bittet, von der Parkbank aufzustehen, und auch mehr als eine Regierung, die uns per Gesetz dazu zwingt, daheimzubleiben.

Die Solidarität, die seit dem Ausbruch der Krise hochgehalten wird, bedeutet auch, dass wir unseren Mitmenschen vertrauen müssen. Diese überlegen es sich sehr wohl, wenn sie hinausgehen, genauso wie man selbst. Und wenn nicht, ist es in einem Rechtsstaat nicht die Aufgabe der Nachbarschaft, das zu sanktionieren. (Gabriele Scherndl, 27.3.2020)