Schachmatt.

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Wien/Jekaterinburg – War es absehbar? Das Schach-Kandidatenturnier im russischen Jekaterinburg, das zehn Tage und sieben Runden lang als einzige global rezipierte Sportveranstaltung der Absagewelle aufgrund der Corona-Pandemie getrotzt hat, wurde am Donnerstag vor der achten Runde vom Weltschachbund Fide unterbrochen. Die nicht-russischen Teilnehmer wurden aufgefordert, ihre Koffer zu packen und sich zur Abreise bereit zu machen, um den letzten Russland verlassenden Passagierflug nach Amsterdam (recht praktisch für den Niederländer Anish Giri) zu erwischen.

Wie Fide-Präsident Arkadi Dworkowitsch in einem offiziellen Statement verlautete, bleiben die Resultate der ersten sieben gespielten Runden gültig. Die zweite Hälfte des Kandidatenturniers soll, sobald es die Weltlage zulässt, ebenfalls wieder in Jekaterinburg durchgeführt werden.

Vachier-Lagrave vor "Nepo"

Ungerecht behandelt wird sich nun wohl in erster Linie der Aserbaidschaner Teimur Radschabow fühlen, der schon Wochen vor Beginn eine Verschiebung gefordert hatte, damit aber bei der Fide nicht durchgedrungen war. Durch Radschabows Rückzug rutschte Maxime Vachier-Lagrave ins Turnier – und führt nun vor dem punktegleichen Jan Nepomnjaschtschi, den er in Runde sieben im direkten Duell mit den weißen Steinen spielend bezwang.

"Nepo" hatte sich gegen die französische Nummer eins auf die Winawer-Variante der Französischen Verteidigung eingelassen – ein zweischneidiges, strategisch riskantes Abspiel, bei dem Schwarz früh seinen schwarzfeldrigen Läufer abtauscht, um die weiße Bauernstellung am Damenflügel zu entwerten. Auf höchstem Niveau wurde die nach einem Warschauer Meister des 19. Jahrhunderts, Szymon Winawer, benannte Variante zuletzt eher selten angewandt, und Vachier-Lagrave demonstrierte überzeugend, warum: Erst schob der Franzose seinen h-Bauern den Brettrand entlang, um Schwarz am Königsflügel einzuengen. Dann opferte er auf der anderen Seite eine Qualität, die Nepomjaschtschi verschmähte, um nicht unmittelbar an seinen schwarzfeldrigen Schwächen zugrunde zu gehen. Und gerade als der Russe den Damenflügel notdürftig abgedichtet zu haben schien, riss Vachier-Lagrave gekonnt den Königsflügel auf, wo er mit einer Dame-Springer-Combo dem schwarzen Monarchen humorlos den Garaus machte.

No more flights

Während Vachier-Lagrave und Nepomnjaschtschi damit nach sieben Runden bei je viereinhalb Punkten notieren, folgt der Großteil des Feldes mit einem vollen Punkt Rückstand. Darunter auch Turnierfavorit Fabiano Caruana, dem der Abbruch des Turniers gelegen kommen dürfte, da er seine volle Spielstärke in Jekaterinburg bislang eindeutig nicht hatte entfalten können.

Co-Favorit Ding Liren aus China liegt mit nur zweieinhalb Punkten abgeschlagen auf dem geteilten letzten Rang. Für ihn dürfte der Unterbrechung bereits zu spät kommen, um das verpatzte Turnier bei Wiederaufnahme noch drehen zu können.

Laut offizieller Verlautbarung der Fide war der Vorhang übrigens nicht wegen einer möglichen Ansteckungsgefahr der Teilnehmer gefallen: "Die Fide kann das Turnier nicht fortsetzen, wenn keine Garantie besteht, dass alle Teilnehmer und Offiziellen nach Turnierende sicher und zeitgerecht in ihre Heimatländer zurückkehren können", schrieb Fide-Präsident Dworkowitsch. Da Russland heute, Freitag, den internationalen Flugverkehr komplett einstellt, war eine solche Garantie offenbar selbst mit besten Kontakten zum Kreml, über die Dworkowitsch jedenfalls verfügt, nicht mehr zu bekommen.

Egal wie man die Entscheidung, das Turnier unter den gegebenen Umständen überhaupt erst zu starten, im Rückblick beurteilen möchte: Die in den ersten sieben Runden gespielten Partien boten Schach auf höchstem Niveau. Millionen Schachfans in aller Welt warten nun gespannt auf den zweiten Durchgang des Turniers, bei dem der Herausforderer für Weltmeister Magnus Carlsen ermittelt wird – wann auch immer dieser zweite Durchgang stattfinden wird. (Anatol Vitouch, 26.3.2020)