In der Megastadt Mumbai wird der empfohlene Abstand auf dem Boden markiert.

Foto: AFP / Indranil Mukherjee

"Ich verlasse Indien schweren Herzens", sagt Sophie Prana, während sie am Flughafen in Delhi auf einen Notflug der AUA wartet. Die Anzeigetafeln des größten Flughafens Indiens sind schwarz, die Rollläden der Kioske heruntergezogen, die Gänge leer. Nur das Militär ist noch hier, erzählt sie dem STANDARD am Telefon. Die vom Außenministerium organisierte Maschine wird aus Colombo kommen, wo sie schon einige Österreicher eingesammelt hat. Von Delhi geht es dann direkt nach Wien. Wenn Prana daran denkt, was in Indien in ein paar Wochen passieren könnte, hat sie Horrorbilder im Kopf.

Lange haben die Menschen in Indien das Coronavirus nicht ernst genommen, sagt die Österreicherin, die in der Öffentlichkeit mit Pseudonym auftritt. Sie lebt über die Wintermonate in Indien. Die Sommerhitze sei der natürliche Feind des Coronavirus, dachte man. "Bis Sonntag war es so, als würde das Indien gar nicht betreffen." Offiziell wurden bis Donnerstag in Indien 649 Infektionsfälle gezählt, 13 Menschen erlagen der Krankheit bisher – Experten gehen aber von einer höheren Dunkelziffer aus. In dem Land leben 1,3 Milliarden Menschen, getestet wurden 24.254 von ihnen. Daten deuten darauf hin, dass das Virus von westlichen Touristen eingeschleppt wurde. Nach einer ersten Welle in Delhi verbreitet sich das Virus nun auch in Dörfern. "Wenn das hier jetzt akut wird, wird es krachen", sagt Prana. "Und es ist niemand darauf vorbereitet."

In Indien mag es Spitzenmediziner und hervorragende Spitäler geben, doch die kann sich nur eine kleine Elite leisten. Das öffentliche Gesundheitswesen ist notorisch überlastet: So kommen auf 1.000 Personen nur 0,5 Spitalsbetten. In Italien sind es 3,2, in China 4,3.

Prana hatte sich eigentlich darauf eingestellt, am Donnerstag zu Fuß zum Flughafen zu marschieren. Denn seit Dienstagnacht gilt in Indien ein dreiwöchiger Komplett-Shutdown. Öffis, Züge und Flugzeuge stehen still, Hotels sind weitgehend geschlossen. Taxis und Rikschas dürfen nicht fahren. Kurzfristig fand Prana doch einen Fahrer, der das Risiko auf sich nahm, "weil er helfen wollte", so die Österreicherin. An den Polizeisperren in der Stadt musste sie ihren Passierschein von der österreichischen Botschaft vorzeigen.

Am Ende hat sie dem Helfer ihr restliches Geld gegeben, rund 80 Euro. Denn der Mann weiß nicht, wie er die nächsten Wochen seine Familie durchbringen soll. So wie er sind viele Menschen in Indien nicht in ein Sozialsystem eingebunden, sondern verdienen ihr Geld als Tagelöhner. Ein Großteil kann es sich schlicht nicht leisten, zu Hause zu sitzen und abzuwarten. "Wir haben Angst, dass wir eher durch Hunger sterben als durch Corona", sagte ein Betroffener jüngst zur BBC.

Social Distancing in den Megacitys

Als Premierminister Narendra Modi am Dienstag den Lockdown verkündete, stellte er das Land auf eine harte Probe. Die Menschen sollen sich "sozial distanzieren" – in einem Land, in dem die am dichtesten besiedelten Städte der Welt liegen. Vor allem die Situation in den größten Slums Asiens ist kaum zu überblicken. Die Regierung hat angekündigt, nun Essen und Wasser in die Slums zu liefern, um Unruhen zu verhindern. Und doch sind sich Experten weitgehend einig, dass nur eine drastische Maßnahme das Schlimmste verhindern kann. "Wenn ihr diese 21 Tage nicht durchhaltet, werden dieses Land und eure Familien 21 Jahre zurückgeworfen", stimmte Modi den Subkontinent auf den größten Lockdown in der Geschichte der Menschheit ein.

Kritik gab es jedoch für die Informationspolitik. Noch am Sonntag war von nur einem Tag die Rede, daraus wurden drei. Und schließlich drei Wochen – angekündigt bloß mit vier Stunden Vorlaufzeit. Anfangs wurde kommuniziert, dass rasch alles wieder offen hätte, man also nicht vorsorgen müsse. "Aus Angst davor, dass Panik ausbrechen würde", sagt Prana. Auch sie wollte bis zuletzt gar nicht das Land verlassen. Noch bei ihrer Reise aus Südindien nach Delhi gab es weder Fiebermessungen noch Schutzmasken. Auf einen Schlag kam dann die politische Kehrtwende.

Gewalt per "Bambusmassage"

Nun stehen viele Menschen ohne Essen da. Im Internet kursieren Videos, die zeigen, wie die Polizei den Lockdown mit drastischen Mitteln umzusetzen versucht. Menschen, die ihn nicht einhielten, mussten in Meerut Plakate mit der Aufschrift "Ich bin ein Freund von Corona" halten. Im Bundesstaat Telangana ist die Polizei sogar ermächtigt, bei Verstößen zu schießen.

Seit Sonntag hatte Prana versucht, einen Taxifahrer zu organisieren. Doch alle haben ihr bloß mit Videos von Polizisten geantwortet, die mit Bambusstöcken durch die Straßen ziehen. "Bamboo massage" werden ihre Maßnahmen genannt. Das Virus hat auch den seit drei Monaten laufenden Antiregierungsprotesten in Delhi ein jähes Ende bereitet. Am Dienstag brach die Polizei die Sit-ins, die der Regierung schon lange ein Dorn im Auge waren, mit Bulldozern auf.

Für die Regierung Modi stellt Corona somit die größte Herausforderung in seiner bisherigen Amtszeit dar. Einer ohnehin schwächelnden Wirtschaft möchte er mit knapp 20 Milliarden Euro den Rücken stärken. Positive Zeichen kommen aus dem südindischen Bundesstaat Kerala. Dort scheint die kommunistische Regierung die Verbreitung besser im Griff zu haben. Und WHO-Chef Mike Ryan hat unlängst daran erinnert, wie es Indien 2014 geschafft hat, Polio zu bekämpfen, "indem man es bis zum Dorflevel heruntergebrochen hat. Das Land hat das Virus von Distrikt zu Distrikt zu Distrikt verfolgt. Und Indien hat gewonnen." (Anna Sawerthal, 27.3.2020)