Einkaufen ersetzt jetzt Kinos, Kirchen und Theater: Tex Rubinowitz.

Foto: APA / Herbert Neubauer

Ein Tag

Gestern war Sonntag, glaube ich, in diesem komischen Geisterraum fühlt sich jetzt ja jeder Tag wie Sonntag an, nicht wie ein Sonntag, nach dem man sich sehnt nach einer durchschufteten Woche, wenn überhaupt noch irgendwo geschuftet wird und nicht stattdessen die Alltage als Erlösung vom Stress des Wochenendes empfunden werden, etwas machen zu müssen, also dem Sonntag des Stupors, der Lähmung in Katalepsie, jeder Tag ist jetzt, wie vor einer Mauer zu stehen oder die Luft anzuhalten, wie der Wunsch, dieser Stillstand möge aufhören, wie Weihnachten und Tschernobyl gleichzeitig, und das Allerseltsamste ist, dass sich der letzte Sonntag (von wie vielen eigentlich schon?) in der Isolation anfühlte wie ein richtiger Sonntag, einer aus einer uralten Zeit, wie aus einem Manfred-Krug-Lied aus der unfreien DDR:

Sonntag – es fällt nie wieder Schnee
Blüten fallen ins Dekolleté
Alle Leute sind froh
Und das ist nicht immer so
Alles liebt und alles lebt
Schau, wie der Wind die dünnen Kleider an schöne Beine klebt

Es gibt keine neue Zeit, nur die alte, das hier ist der Warteraum, man wird irgendwann aufgerufen, aber bisher ist das noch nicht geschehen, mal ist man furchtbar müde, erschöpft, ohne geschuftet zu haben, und gleichzeitig total munter, gestresst in Bewegungslosigkeit, mal hat man Energie, etwas zu machen, aber das bleibt meistens bei diesem Vorhaben, so als wäre der Plan schon das Resultat, man ist dauernd entzündet und hofft auf eine resignativ-kindliche Art, dass es besser wird, nicht mal unbedingt für einen selbst, sondern durchaus altruistisch, wenn es den anderen gut geht, geht’s mir auch gut, das Paradoxon des altruistischen Egoismusses, und dann verzettelt man sich im Kleinen, wie eine Prokrastination des Lebens, wie ist eigentlich der korrekte Genitiv von Egoismus? Wer bin ich, wenn ich mir etwas wünsche?

Man lenkt sich von der Angst vor dem formlosen Ungewissen mit Belanglosigkeiten ab, das ist die Übersprungshandlung, aus der wir eine neue Form der Struktur für unsere beschädigten Leben zu generieren versuchen, und es endet immer nur in Larmoyanz und Durchhalteparolen. Und Zahlen, man starrt fassungslos auf diese explodierenden Zahlen, dass sie Antwort geben oder zeigen, wo der Weg sein könnte.

Zumindest eine gute Sache hat das ganze Schlamassel, dass es eine schlechte Zeit für Einbrecher ist (für Eisbecher auch, man vermisst sie jetzt schon, weil sie ein Versprechen sind), Einbrechen ist so démodé, und wenn man gerne ohne Fahrschein öffentlich fährt, ist es eine gute Zeit. Soll ich schwarzfahren, in einem dieser leeren Geisterbusse, nur wohin, in eine leere Gegend, voll mit Nichts? Ich komme nie an, nirgendwo, und das Virus ist schon da, überall. Einbrecher, Eisbecher, Schwarzfahrer, alles steht in einem neuen Kontext in einer Transitzone.

In der heutigen Folge von Bares für Rares, man kommt sich vor wie in einer lange zurückliegenden Zeit, stehen und sitzen die Verkäufer, Experten, Händler und das hässliche Horst-Lichtertier dicht an dicht beieinander, das sind offenbar alles noch auf Halde produzierte Folgen, die weggesendet werden, ein junges Mädchen hat einen klobigen, hässlichen Ring, über und über mit Brillis besetzt, mitgebracht.

Waldi: "Das ist aber mal ein fetter Prügel, Engelchen, wurde der für die Füße genommen?"

Verkäuferin: "Nein, der hat meiner Oma gehört."

Man lacht, natürlich, diese kleinen komischen Oasen in der Struktur dieser starren Sendung, und kommt irgendwann drauf, das sind alles uralte Folgen, die sie nur tagesaktuell in die ZDF-Mediathek stellen, so als würden wir das gar nicht mitbekommen, da steht das heutige Datum, aber gesendet wurde das schon mal, vor Äonen, über den Witz hat man schon mal gelacht, müder als jetzt vermutlich, als man dankbar für solche Witzchen war, aber das Lachen hat man natürlich längst vergessen, die Sendung wattiert uns in dem Glauben, dass das Jetzt nicht stattfindet.

Noch ein Tag

Was neu ist, was man bisher nicht kannte, ist, dass man so dankbar ist, einkaufen zu können, wie wohltuend so ein Gang sein kann, wie solche Läden Hoffnung spenden können, wie essenziell solche Einrichtungen sind, deren metaphysischer Wert einem gar nicht so bewusst war bisher, man hatte das in der beiläufigen Banalität einfach übersehen, dass solche Einrichtungen Trost spenden, den die Kirchen schon lange nicht mehr zu spenden in der Lage sind, mal davon abgesehen, dass Gotteshäuser sowieso zu sind. Sich zu denken, ich geh jetzt einkaufen, was soll ich anziehen, sogar ein bisschen aufgeregt zu sein?

Einkaufen ersetzt Kirchen, Kinos und Theater, Ausgehen und Verabredungen, dass Einkaufen jetzt plötzlich sichtbar macht, wie es Einsamen geht, wenn alle Sozialkontakte weggebrochen sind, aus welchen Gründen auch immer.

Vor gar nicht so langer Zeit wären in einer solchen Situation selbstverständlich erst mal alle in der Kirche zusammengekommen, um dringend was mit ihrem Herrgott zusammenzulügen, und jetzt: auf einer Stufe mit Fitnessstudios und Puffs, eine niedriger als Friseure, Waschsalons und Tierbedarfsmärkte. Unglaublich.

Was für ein Bedeutungsverlust, Konsum ist Trost und Erlösung. Andy Warhol hätte seine Freude gehabt, wenn er nicht selbst auch täglich in die Kirche gegangen wäre. Und Haare schneiden sich jetzt alle auch selbst, außer man trägt eine Perücke wie Andy Warhol. Und immer schön viel weinen, das ist gut, dann kann das Virus nicht rein, wenn die Schleimhäute rinnen.

So viele Tipps, so viele Meinungen und Rumgemeine, so viel Wehklagen, so viele Kolumnen, so viele schlechte Witze über Klopapier und Corona-Bier und die Theorie, dass ab jetzt in neun Monaten die Geburtenrate ansteigt, das ist Unsinn, erst wenn der ganze Scheißdreck vorbei ist, das Virus besiegt, dann beginnt die Zeit des Hedonismus, des Aufbruchs, der Erlösung, alle sind so dankbar und hungrig gleichzeitig, und ab diesem Zeitpunkt, neun Monate weiter, werden die Babys nur so auf die Erde ploppen wie biblischer Hagelschlag. Und man wird ihnen zur Geburt eine Rolle Klopapier schenken und wird sich furchtbar witzig finden. Aber Witze waren noch nie witzig. Und ab jetzt sind sie nur noch armselig.

Ein weiterer Tag

Buchmesse abgesagt, Song Contest abgesagt, Fußball abgesagt, Olympische Spiele abgesagt, nichts findet statt, wahrscheinlich auch nicht der Bachmannpreis, und genau in dem Moment fällt mir ein Witz ein, ich hasse Witze, ich kann mir weder welche merken noch welche erfinden, komisch, dass mir jetzt einer einfällt, Übersprungshandlung mal wieder, und der ist gar nicht mal so schlecht: Liest ein Autor beim Bachmannpreis und ritzt sich die Stirn auf, fragt einer der Juroren den Autor: "Welche Blutgruppe haben Sie, ich bin Gruppe 47."

Und auch dieser Witz, oder diese Simulation eines Witzes in unserer von einem Virus ausgedachten, simulierten Welt, ist wie aus einer anderen Zeit, wie alle Witze, alle Veranstaltungen, alles war einmal, selbst die Zukunft war einmal, die, die wir uns vorgestellt haben, es gibt keine Erinnerung mehr an und kein Zurück mehr in die Zukunft, kein Vorwärts in die Vergangenheit, zum Anfang, an dem man etwas hätte bereuen oder korrigieren können. Als alles noch so einfach war, als Witze noch funktionierten, als es noch eine Struktur für alles gab. Wir befinden uns in einem Raum voll mit Nichts. (Tex Rubinowitz, 28.3.2020)