STANDARD: Sie sind Stadthistoriker und haben sich der Stadt Wien schon aus vielen unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet. Erleben wir gerade einen historischen Moment?

Payer: Ich empfinde es absolut so, denn für die Generationen, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren und aufgewachsen sind, gibt es keinen vergleichbaren gesellschaftlichen Einschnitt. Und je länger die Krisensituation dauert, desto mehr und deutlicher werden wir der historischen Dimension gewahr.

STANDARD: Inwiefern verändert sich die Stadt dieser Tage?

Payer: Stadthistorisch betrachtet ist die Situation mit Kriegszeiten vergleichbar. Denn wir wissen, dass sich die Hierarchie der Sinne im Krieg komplett verändert. Robert Musil hat über den Ersten Weltkrieg geschrieben, dass sich der Hörsinn verschärft, während der Sehsinn in den Hintergrund tritt. Man hört und interpretiert das Pfeifen der Geschoße, das Grollen des Einschlags. Im Zweiten Weltkrieg wiederum wurde das Hören der Menschen auf ein Maximum hochgefahren, weil es in den Städten Verdunkelungsvorschriften gab und man im Luftschutzkeller ausschließlich auf seine Ohren angewiesen war. Der Krieg wälzt unsere Sinneswahrnehmung um. Und die Corona-Krise ebenso.

Die Stadt in ihrer puren Materialität: Wiener Graben, kurz vor 19 Uhr.
Foto: Czaja

STANDARD: Welche Sinne sind heute gefordert?

Payer: Das Besondere in der jetzigen Situation ist: Der Feind ist nicht zu sehen, nicht zu hören, nicht zu riechen, nicht zu fühlen, nicht zu schmecken. Das Einzige, was wir tun können, ist Distanz halten. Der Sehsinn und der Tastsinn sind nun besonders gefordert. Wir schätzen Entfernungen ab, vermeiden das Angreifen von Türschnallen und Haltegriffen. Das ist etwas völlig Neues und absolut Unurbanes.

STANDARD: Welche Auswirkungen hat das auf das uns bekannte Wien?

Payer: Mir kommt die Stadt vor wie ein Gefäß, das geleert wurde. Wie ein ziemlich volles Gefäß, das nun fast gänzlich leer ist. Jetzt ist nur noch die Hülle übrig, und durch den Mangel an Ablenkung – an Menschen, an Autoverkehr, an Kaufangeboten, an optischen, akustischen und olfaktorischen Reizen – konzentrieren wir uns plötzlich mehr auf unsere Sinne. Wir spüren den Untergrund, auf dem wir gehen, wir sehen die Schönheit der Gebäude und nicht nur jene der Schaufenster, wir erleben den öffentlichen Stadtraum in seiner vollen Bandbreite. In dieser puren Materialität werden wir die Stadt in absehbarer Zeit nie wieder wahrnehmen. Das ist eine einzigartige Laborsituation.

STANDARD: Was tut ein Stadthistoriker in diesem Labor?

Payer: Ich gehe spazieren, suche Orte auf, die ich in Fleisch und Blut als belebt abgespeichert habe, um sie neu zu erleben, gehe mitten auf der Straße spazieren, höre meine Schritte, lausche dem Vogelgezwitscher, mache Notizen und Fotografien und spreche mit den wenigen Menschen, die im öffentlichen Raum noch im Einsatz sind – mit Lieferanten, Straßenkehrern und mit dem Wärter des Stephansdoms. Es ist eine faszinierende, ganz neue urbane Erfahrung.

STANDARD: Was war Ihre schönste Entdeckung diese Woche?

Payer: Ein Spaziergang durch den zweiten Bezirk, bei mir ums Eck. Am Beginn der Praterstraße, ein wunderschönes Plätzchen mit Pariser Atmosphäre, steht ein Nestroy-Denkmal, und irgendwer hat diesem Nestroy eine Gesichtsmaske umgebunden. Im Nordbahn-Viertel wiederum habe ich ein Bierlokal mit einer Stelltafel gesehen: "Corona nur noch zum Mitnehmen!" Diese Bilder zeigen den Ernst der Situation, aber auch einen gewissen Humor, der Gott sei Dank noch immer vorhanden ist und den wir uns unbedingt bewahren müssen.

Eine verlassene Wiener Staatsoper.
Foto: Czaja

STANDARD: Und die eigenartigste, unangenehmste Beobachtung?

Payer: Ein komplett überfüllter Treppelweg am Donaukanal mit Kindern, Joggern und verliebten Pärchen, als sei nichts gewesen.

STANDARD: Um 18 Uhr haben die Polizeiautos in ganz Wien den Song "I Am from Austria" von Rainhard Fendrich übers Megafon gespielt. Wie beurteilen Sie diese Situation?

Payer: Ich habe den Song persönlich nie gehört, aber sobald Autos durch die Straßen fahren und über knarrende Lautsprecher großflächig die Stadt beschallen, signalisieren sie damit Alarmmodus und Unsicherheit. Ich halte das für kontraproduktiv. Zudem ist das Lied auch ein bisschen chauvinistisch und sorgt bei vielen Menschen eher für Segregation als für kollektiven emotionalen Zusammenhalt.

STANDARD: Wenn wir von Urbanität, Lebensqualität und städtischer Vielfalt sprechen, dann meinen wir damit meist öffentliche Freiräume und infrastrukturelle Punkte der Sozialisation. Gibt es auch so etwas wie eine dem Rückzug und der Stille dienende Stadtplanung?

Payer: Ich hoffe doch! Mein tiefstes Ansinnen als Stadtforscher und Stadthistoriker ist, auch für solche Räume der Stille und des persönlichen Rückzugs in der Stadt zu werben und die Notwendigkeit zu untermauern. Die moderne Stadt zeichnet sich durch Reizüberflutung und durch unzählige Signale aus, die permanent auf uns einströmen. Orte der Entschleunigung sind extrem wichtig. Wie gut sie uns tun, merken wir dieser Tage.

STANDARD: Ist Wien in seinem historischen, europäischen Wachstum für eine Krise wie diese besser gewappnet als beispielsweise eine amerikanische Metropole oder eine vergleichsweise junge Stadt vom Reißbrett?

Payer: Polemisch würde ich sagen: Autozentrierte Rasterstädte wie Brasília oder Los Angeles, in denen man allein im Auto sitzt, sind die derzeit ungefährlichsten Lebensorte. Aber das ist zu kurz gegriffen. Die Wahrheit ist: Historisch gewachsene Städte, die in der Bevölkerung für ihre hohe Lebensqualität beliebt sind, die eine gute technische und soziale Infrastruktur mit Greißlern, Bäckereien, Ärzten, Apotheken, Spitälern und Supermärkten in Gehdistanz bieten und in denen sich die Menschen gerne aufhalten und sicher fühlen, sind auch in Ausnahmesituationen wie jetzt weitaus resilienter und widerstandsfähiger.

STANDARD: Werden wir unseren städtischen Raum nach Corona anders schätzen und erleben als vor Corona?

Payer: Nach nur zwei Wochen halte ich mich damit zurück, eine Prognose zu erstellen. Aber eine Auswirkung – in welche Richtung auch immer – wird es auf jeden Fall geben. Ich hoffe nicht, dass die Bewusstseinsbildung verblasst und wir bald wieder in unsere alten Muster zurückfallen. Wenn wir klug sind, dann werden wir die Erkenntnisse aus der Corona-Krise in die Architektur, Stadtplanung und Stadtentwicklung einfließen lassen – aber auch in die Art und Weise, wie wir die Stadt solidarisch nutzen und mitgestalten.

Der Wiener Stadtforscher Peter Payer.
Foto: Peter Payer

STANDARD: Von welchen konkreten Erkenntnissen sprechen wir da?

Payer: Erkenntnisse in Bezug auf Logik und Struktur einer Stadt, auf Urbanistik und Infrastruktur, auf Stärkung, Ermächtigung und Selbstidentifikation mit dem Raum. Es wird Monate dauern, bis die Stadt und die Gesellschaft dieses Erlebnis verarbeitet haben werden. Doch das Gute ist: Es gibt viel Erfahrung aus der Geschichte, auf die wir zurückgreifen können, denn die Stadt war immer schon ein Ort der Krisen und der Krisenbewältigung.

STANDARD: Gibt es einen persönlichen Wunsch?

Payer: Durchaus.

STANDARD: Und zwar?

Payer: Ich wünsche mir, dass in die aktuelle Diskussion öfter Historiker eingebunden werden. Historiker sind in der Lage, den Blick in die Vergangenheit zu richten und zu analysieren, welche Methoden der Krisenbewältigung sich im Lauf der Geschichte bewährt haben – und welche nicht. Ich glaube, wir könnten hier einen wertvollen Beitrag leisten. (Wojciech Czaja, 28.3.2020)