An den Beinen schlabbert die graue Jogginghose, der heiße Kaffee wärmt die Lippen. In der letzten halben Stunde habe ich sieben Seiten der digitalen Jobportale durchblättert, sechsmal Instagram aufgerufen und zweimal den elektronischen Posteingang aktualisiert. Jetzt lehne ich am Fensterbrett, die Kaffeetasse zwischen beiden Händen, und beobachte die leeren Straßen, die geschlossenen Fensterläden der kleinen Designershops und hier und da ein vorbeifahrendes Auto. Manchmal öffnet sich eine der Haustüren, aus denen angeleinte Hunde ungeduldig ihre Menschen ziehen. Manchmal verlässt ein Mensch den Supermarkt, in jeder Hand eine Einkaufstasche, gefüllt mit Limonadeflaschen und Klopapier. Und manchmal begegnen sich die einsamen Seelen an Gehsteigecken, wo sie auf den vorgeschriebenen Abstand vergessen. "Das war aber kein ganzer Meter", möchte ich sogleich herunterrufen, halte mich aber doch zurück.

Es ist ein Tag im März, und das Leben ist anders. Niemand hätte noch vor einigen Tagen geahnt, was heute alles möglich ist. Die Regierung arbeitet geschlossen zusammen, die Geschäfte sind zu, öffentliche Orte der menschlichen Zusammenkünfte sowieso. Langsam gleiten Polizeiwagen über die Straße, Büroangestellte arbeiten von zu Hause aus, soziale Beziehungen werden mittels Skype gepflegt, und wer trotzdem immer noch wagt, die Wohnung ohne triftigen Grund zu verlassen, hat mit einer gepfefferten Geldstrafe zu rechnen. Covid-19 geht um die Welt und beraubt uns unserer Freiheiten.

Ausdruck eines Statussymbols

Begonnen hat alles vor drei Monaten, als am anderen Ende der Welt jemand seine soziale Überlegenheit durch den Ausdruck eines Statussymbols unterstrich. Irgendwo zwischen buntem Markttreiben und artungerechter Käfighaltung beschloss jemand, ein wildes Tier zu essen. Einfach so, weil man es sich eben leisten kann. Und weil man sich eben anhand seiner sozialen Position verhält, sagte schon der französische Soziologe Pierre Félix Bourdieu. Wer das außerordentliche Kapital besitzt, ein exotisches Tier zu essen, tut das eben, um sich in seiner Rolle bestätigt zu sehen. Dass ausgerechnet dieses Tier eine Krankheit auf den Menschen übertrug, die nicht bei diesem Menschen, nicht in Wuhan, nicht in China, nicht in Asien Stopp machen sollte, sondern sich mit allen Hilfsmitteln der Globalisierung schließlich über die gesamte Welt verbreitete, konnte zu Zeiten des Verzehrs ja keiner erahnen.

Da sitzen wir also, weltweit zahlreiche Todesopfer und noch mehr Infizierte später, in unseren Wohnungen in Mitteleuropa, wo man bislang nicht im Traum daran dachte, dass passieren würde, was eben passiert: Da geht eine Krankheit um, die so ansteckend und so unbekannt ist, dass es harte Maßnahmen braucht – und das jeden Tag aufs Neue und ohne dass es irgendjemand infrage stellt. Schließlich handelt es sich laut WHO um eine Pandemie. Alleine in Österreich sind aktuell bereits über 7.000 (Stand: 27. März) Personen betroffen, dabei war der erste Fall doch erst vor knapp vier Wochen.

Der Aufschrei blieb aus

In diesen vier Wochen ist so einiges passiert. Nachdem das Land erst ein wenig verschlafen reagierte, ging es plötzlich recht schnell. Was mit Reisewarnungen begann, ging bald zu Reduktionen im Unterrichtsbetrieb über und mündete rasch in einer Schließung der Universitäten und Schulen – das erste Aufhorchen. Einreisestopps, Veranstaltungseinschränkungen und der Appell, soziale Kontakte zu verringern – Seufzen. Automatische U-Bahn-Türen, verringerte Besuchsempfehlungen für Kranke, telefonische Krankschreibungen, Homeoffice, Geschäftsschließungen, Ausgangsbeschränkungen – der Aufschrei blieb aus. Und das mit Grund.

Foto: APA/BARBARA GINDL

Wer will denn schon dem Tod ins Auge sehen wie unsere Mitmenschen in China oder gar im Nachbarland Italien? Die Maßnahmen werden eben so hingenommen, und bis auf ein paar Einzelne sind eigentlich alle froh, dass unsere Regierung effizient handelt, dass sie sich um uns kümmert, dass irgendwie aus der einst so verfeindeten linken und der rechten Hemisphäre der Gesellschaft ein großes, bemühtes Ganzes geworden ist. Nur gemeinsam können wir das Virus besiegen, nur Solidarität kann uns schützen, nur Gehorsamkeit hilft uns jetzt noch.

Und doch flüstert irgendwo im Hinterkopf eine besorgte Stimme. Eine, die an die Vergangenheit erinnert und an literarische Utopien. Eine, die an soziale Verantwortung appelliert und an die Wichtigkeit des Ungehorsams: Wird das denn nun so bleiben? Ist die Welt, wie wir sie kannten, vorbei? Ist das die neue, digitale Gesellschaft? In der wir soziale Kontakte mit sozialen Medien gleichstellen, Käufe über Lieferantenriesen tätigen und Vitamin D in Tablettenform beziehen? In der sich unser Tun auf Bildschirme beschränkt? In der unsere gesamte Existenz einer kontrollierten und sanktionierten Transparenz entspricht?

Eine leise Stimme im Hinterkopf

Doch die Zukunft ist die Zukunft, und die Gegenwart ist Corona. Also gehorchen wir. Wir nicken und schweigen und sind dankbar und froh. Froh, dass uns jemand anführt in diesen harten Zeiten. Also verabschieden wir uns für unbestimmte Zeit von unseren Freunden, holen die Bürocomputer in unsere eigenen vier Wände und beobachten sehnsüchtig die Sonne, die am Horizont vorbeizieht, von unseren dunklen Löchern durch die Fenster hinaus. Laufen angsterfüllt über die Straße zum benachbarten Supermarkt, mit Masken oder Schals vor dem Gesicht. Zahlen mit Karten, um Keime zu vermeiden, sind froh über kontrollierende
Polizeiwagen, nehmen Überwachungen unserer Handydaten hin und kommunizieren ausschließlich digital mit unseren Liebsten – über Kanäle, die dafür bekannt sind, unsere Informationen zu speichern.

Aber die leise Stimme im Hinterkopf, die bleibt. Denn irgendwie kommt es ihnen ja recht, denen, die schon so lange für den Hochsicherheitsstaat geworben haben, für den starken Nationalstaat ohne Schengen, mit lückenlosem Grenzschutz und GPS-Kontrollen. Denen, die schon lange unsere Privatnachrichten prüfen und den Verlauf unserer Finanzen transparent sehen wollten. Denen, die für das Wirtschaftswachstum der Marktriesen sind und das der Kleinen gerne unter den Tisch fallen lassen. Irgendwie haben genau die nun genau das. Ohne Abstimmung, ohne Anfechtung, ohne Argumentationspflicht und ohne Aufschrei. In der Zeit der Pandemie haben wir schließlich andere Sorgen. Wir befolgen treu Anweisungen von oben und freuen uns, wenn die Unsolidarischen, Ungehorsamen Sanktionen erhalten.

Überwachung, Gehorsam und Kritiklosigkeit

Aber während die da oben eben genau das haben, was sie ohnehin wollten – die
Überwachung, den Gehorsam, die Kritiklosigkeit der Massen –, haben wir etwas anderes: Zeit. Zeit für Kritik der Kritiklosigkeit. Zeit für ein paar grundlegende Gedanken, bevor wir den Pessimismus zugunsten der Dankbarkeit wieder beiseiteschieben. Und vielleicht ist genau das unser größtes Kapital.

Während wir also zu Hause sitzen, Jobportale durchblättern und Instagram aufrufen, während wir E-Mail-Eingänge aktualisieren und zwischen Schreibtisch und Couch hin und her pendeln, während wir unsere Hände zum 33. Mal an diesem Tag waschen und Türschnallen desinfizieren, während wir den Geschirrspüler zum dritten Mal heute einräumen, bleibt Zeit, uns Gedanken zu machen: darüber, ob etwas schiefläuft, ob unsere Grundwerte gefährdet sind und ob es Zeit für einen Aufschrei ist. Ob wir das Leben, wie wir es jetzt haben, für immer haben wollen. Ob wir bereit sind, Freiheit gegen Sicherheit zu tauschen, Privatsphäre gegen ewigwährende Gesundheit und das nationale Wohlergehen für jenes der anderen. Und während wir den dritten Geschirrspültab an diesem Tag in die Maschine legen, fragen wir: Wie revoltiert es sich eigentlich in einer Gesellschaft ohne Versammlungsrecht? (Jana Reininger, 1.4.2020)