Auf dem östlichsten Zipfel der Chalkidiki-Halbinsel in Norden Griechenlands, beheimatet der Berg Athos eine ebenso einzigartige wie kuriose Mönchsrepublik, deren ausschließlich männliche Bewohner seit eh und je in Abgeschiedenheit von der Außenwelt leben. Täglich treffen hunderte Pilger am kleinen Hafen von Ouranoupoli ein, um mit der Fähre zu einem der zwanzig großen Klöster auf der Halbinsel zu gelangen. Der Heilige Berg blickt auf eine mehr als tausendjährige Geschichte zurück, in deren Verlauf er zu einem der reichsten Aufbewahrungsorte für Handschriften, Dokumente und Objekte christlicher Kunst in Europa geworden ist.

Vom byzantinischen Kaisertum gefördert entfaltete sich seit dem 8. Jahrhundert das Klosterleben auf der Halbinsel, das im Laufe der Zeit nicht nur die Landschaft, sondern auch unser Geschichtsverständnis tiefgreifend geprägt hat. So übten die Athos-Klöster aufgrund ihres Sonderstatus und ihrer Abgeschiedenheit eine besondere Anziehungskraft auf zahlreiche Mitglieder der Adelsfamilien des mittelalterlichen Balkans aus; häufig verlegten diese ihre Haushalte dorthin und investierten mit eigenen Mitteln in den Ausbau der Anlagen, in christliche Kunst und Kultur. Zusammengenommen bilden die Klosterarchive des Athos die weltweit wichtigste Sammlung byzantinischer Dokumente und sind daher eine zentrale Anlaufstelle für die Erforschung der Gesellschaft und Kultur der byzantinischen Epoche.

Kaliagra-Turm und Gipfel des Athos.
Foto: Angel Yordanov

Der Athos und die osmanischen Sultane

Im Zuge der osmanischen Eroberung des Balkans wurde der Athos weniger stark in Mitleidenschaft gezogen als andere Regionen. Im Gegenteil scheint es, als hätten es die Klöster schon recht früh geschafft, äußerst günstige Bedingungen mit dem aufstrebenden Reich auszuhandeln und so den osmanisch kontrollierten Gebieten eingegliedert zu werden, ohne ihre Besitzungen zu verlieren. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatten die Osmanen bereits 1383 erstmals die Kontrolle über die "Heilige Halbinsel" übernommen und sie über zwei Jahrzehnte ausgeübt, bevor das Gebiet Anfang des 15. Jahrhunderts wieder an Byzanz zurückfiel. Als Venedig 1423 die Herrschaft über das nahegelegene Thessaloniki errang, ergriffen die Mönche die Initiative und übergaben die Halbinsel an Sultan Murad II., den Vater des Eroberers von Konstantinopel, der ihre Privilegien bekräftigte und die vollständige Steuerbefreiung für ihre Besitztümer garantierte.

Dieser Akt markierte den Beginn einer fast fünf Jahrhunderte währenden Periode muslimischer Herrschaft über den Athos, die erst mit den Balkankriegen 1912 endete. Die anfangs reibungslose Beziehung zwischen den Athos-Klöstern und den osmanischen Herrschern währte jedoch nicht lange. Denn schon kurz nachdem diese die dauerhafte Kontrolle über die Region erlangt hatten, wurde der außerhalb der Halbinsel gelegene Landbesitz der Klöster der militärisch-administrative Struktur des Reiches (dem sogenannten Timar-System) eingegliedert, wodurch die einst gewährte Steuerimmunität wieder aufgehoben wurde. Darüber hinaus wurden die Einnahmen der Klöster, die sich aus den Weinbergen, Gärten und Obstbäumen der Halbinsel zusammensetzten, mit einem festen Betrag besteuert, der von den Bruderschaften geleistet und dessen Höhe immer wieder neu verhandelt werden musste.

Unter dem Vorwand, die geltende Praxis mit den kanonischen Vorschriften des Islam in Einklang zu bringen, wurden 1569 der klösterliche Grundbesitz schließlich beschlagnahmt und die Klöster gezwungen, ihre Grundstücke zurückzukaufen sowie fromme Stiftungen (waqf) zu errichten, welche die Grundstücke rechtmäßig verwalteten. Doch unbeschadet der vielen Höhen und Tiefen des Verhältnisses zu der osmanischen Zentralmacht scheinen die Athos-Klöster im Großen und Ganzen in der Lage gewesen zu sein, den Großteil ihrer Güter aus vorosmanischer Zeit zu behalten und sogar neues Land zu erwerben - entweder durch Schenkungen oder direkten Kauf.

Zografou-Kloster, Athos.
Foto: Angel Yordanov

Das Kloster Zografou 

Unter den 20 Großklöstern ist das bulgarische Zografou-Kloster eines der ältesten auf Athos und belegt den neunten Platz in der Hierarchie des Heiligen Berges. Das im 10. Jahrhundert gegründete Kloster genoss im Laufe seines Bestehens die Schirmherrschaft byzantinischer Kaiser, zahlreicher Herrscher des mittelalterlichen Bulgariens sowie der Fürsten der Walachei und der Moldau (der sogenannten Donaufürstentümer). Dabei gelang es dem Kloster, im Laufe der Jahrhunderte beträchtlichen Reichtum anzuhäufen und ein verzweigtes und geografisch ausgedehntes Netzwerk von Ablegern (sogenannte Metochien) zu errichten, welches die Ägäischen Inseln, Griechenland, Bulgarien, die Türkei, Rumänien und sogar Russland umfasste. Die Kontrolle und Steuerung der hierfür notwendigen ökonomischen Infrastruktur führten zur Entstehung einer umfangreichen vielsprachigen Dokumentation, aus der sich die zeit- und raumübergreifende Verbundenheit von Individuen und Netzwerken herauslesen lässt.

Haupttor des Zografou-Klosters.
Foto: Angel Yordanov

Die Zografou-Dokumente – von verstaubten Truhen zu einem modernen Archiv
 
Bis vor kurzem waren die meisten Archivalien des Zografou-Klosters für wissenschaftliche Forschungen unzugänglich. Von byzantinischen Kaiserdekreten über Schenkungsurkunden bulgarischer Könige oder walachischer und moldauischer Fürsten bis hin zu Erlassen osmanischer Sultane sowie zahlreichen anderen Dokumenten, die von Spenden, Gerichtsentscheidungen oder der Buchführung des reichen Klosters berichten – all dies lag über die unterschiedlichen Teile des Klosters zerstreut und war oft jahrzehntelang, wenn nicht jahrhundertelang dem Vergessen preisgegeben.

Vor etwa zehn Jahren fasste daher die gegenwärtige Bruderschaft des Klosters den Entschluss, nicht nur die Bibliothek und das Archiv des Klosters grundlegend zu modernisieren, sondern zur Aufarbeitung der tausenden im Kloster aufbewahrten Manuskripte und Dokumente auch die Expertise eines internationalen Wissenschafterteams in Anspruch zu nehmen. Eine Forschergruppe aus Frankreich und Griechenland übernahm dabei die Aufgabe, die wertvollen byzantinischen Dokumente zugänglich zu machen und sie in der renommierten Reihe "Archives de l'Athos" zu veröffentlichten. Rumänische und bulgarische Spezialisten bereiten eine Ausgabe der walachischen Dokumente vor. Eine weitere Gruppe von Wissenschaftern aus Österreich, Bulgarien und Griechenland arbeitet seit 2015 aktiv an der Sammlung osmanischer Dokumente im Kloster Zografou. Diese sollen im Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

Foto: Angel Yordanov

Ein Klosterarchiv auf dem Weg ins digitale Zeitalter

Mönche und Wissenschafter haben über mehrere Jahre hinweg zusammengearbeitet, um die in der Klosteranlage verstreuten Dokumente zu finden, zu reinigen und gegen Parasiten zu behandeln sowie diese in einem neu eingerichteten Archiv zu ordnen, das entsprechend den neuesten und von weltweit führenden Archiven angewandten technologischen Standards eingerichtet wurde. Es folgten enorme Anstrengungen und viele im Digitalisierungsstudio des Klosters verbrachte Stunden, um die meisten erhaltenen Dokumente und Manuskripte in hochwertige digitale Bilder umzuwandeln. Dies ist jedoch nur der Beginn eines längerfristigen Vorhabens, das von Archiv und Bibliothek des Klosters als einer organischen Einheit ausgeht und das Ziel verfolgt, eine integrierte digitale Beschreibung der wertvollen Bestände von Zografou zu erstellen. In Teamarbeit werden dabei die unterschiedlichen Spezialisierungen nutzbar gemacht, indem mithilfe von Textcodierungstechniken jeweils relevante Begriffe angemerkt und die Daten in eine integrierte interoperable Datenbank eingespeist werden.

Von vorrangiger Bedeutung sind Orts- und Personennamen sowie Chronologien, da sich anhand dieser die Verbindungen von Akteuren über Zeit und Raum hinweg aufzeigen lassen. Das Extrahieren, Einpflegen, Georeferenzieren der Daten ermöglicht es so, die multiplen Verflechtungen des Klosters mit den Machthabern der damaligen christlichen und islamischen Welt mit großer analytischer Schärfe zu untersuchen. Dieses Vorgehen könnte zum einen die Grundlage einer umfassenden Einbindung weiterer Klosterarchive sein, um einen besseren Einblick in die internen Dynamiken der Mönchsrepublik zu gewinnen, und zum anderen einen Ansatz bieten, die gesamte Forschung zu Geschichte des Athos zu erneuern. (Grigor Boykov, 5.4.2020)

Grigor Boykov arbeitet als Historiker am Institut zur Erforschung der Habsburgermonarchie und des Balkanraums der ÖAW. Er befasst sich insbesondere mit der osmanischen Periode und hat zahlreiche Veröffentlichungen zur Bevölkerungs-, Raum- und Architekturgeschichte des Balkans vorgelegt. Er leitet die Arbeitsgruppe zur Erforschung der Dokumente des Zografou-Klosters aus der osmanischen Zeit.

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