Nicht verwirren lassen: Diese Rezension wurde geschrieben, bevor es eine deutschsprachige Ausgabe des Romans gab. Doch die ist mittlerweile erschienen, hier das Cover dazu
Foto: Piper

Towards the end of the Slow, the sunsets had been languorous and other-worldly, breathtakingly beautiful. The last one had taken a month. – Der generische Titel von Andrew Hunter Murrays beeindruckendem Thriller "The Last Day" mag auf den ersten Blick nach der Durchschnittsapokalypse von Nebenan klingen. Aber hier ist er etwas Besonderes, weil wörtlich zu nehmen: Die Rotation der Erde ist zum Erliegen gekommen und nun herrscht seit mittlerweile 30 Jahren ein Tag, auf den nie wieder ein anderer folgen wird.

Wir schreiben das Jahr 2059, und (fast) nichts auf Erden ist noch so, wie es vor dem großen Stopp war. Eine Hälfte des Planeten (Warmside) ist ständig der Sonne zugekehrt, die andere (Coldside) liegt in dauerhaftem Dunkel. Beide sind unbewohnbar. Nur am Rande des Terminators, also der schmalen Zwielichtzone, sind die Verhältnisse noch so, dass Landwirtschaft und damit ein Überleben möglich ist. Großbritannien hatte das unfassbare Glück, genau in dieser Zone zu liegen. Aber es hat sich durch dieses Privileg nicht zum besseren gewandelt.

Ein Thriller ...

Die neuen Verhältnisse lernen wir mit den Augen der 34-jährigen Ellen Hopper kennen. Sie lässt sich nicht gerne auf andere Menschen ein, was aber nur einer der Gründe ist, warum sie einen Job als Wissenschaftsoffizierin auf einer Plattform im Nordatlantik angenommen hat. Ihr freiwilliges Exil geht zu Ende, als die britische Regierung sie dazu zwingt, aufs Festland zurückzukehren. Der Universitätsprofessor Edward Thorne, Ellens ehemaliger Mentor in Oxford, liegt im Sterben und möchte sie noch einmal sehen.

Dieses Regime hat wenig Sinn für Humanität, wie wir noch sehen werden – Ellen fragt sich also zu Recht, warum man einen solchen Aufwand betreibt, Edward seinen Wunsch zu erfüllen. Zumal der einstige Nationalheld schon vor langer Zeit beim De-facto-Diktator Großbritanniens in Ungnade gefallen ist. Aber auch zwischen Ellen und Edward hat es einen Bruch gegeben. Diese beiden Zerwürfnisse bestimmen den Rahmen der Handlung, und beide haben einen Grund, der weit über das Persönliche hinausgeht. Einen davon erfahren wir schon recht früh – der andere wiederum wird zum eigentlichen Dreh- und Angelpunkt des Geschehens.

So sah das Originalcover aus.
Foto: Hutchinson

Denn Edward hütet ein großes Geheimnis. Er kann Ellen zwar nur noch einen vagen Hinweis geben, aber der genügt, um sie – anfangs noch ausgesprochen widerwillig – auf den langen und gefährlichen Weg zur Aufklärung dieses Geheimnisses zu schicken. "The Last Day" ist eines dieser Bücher, bei denen Setting und Kontext wichtiger sind als der eigentliche Plot. Aber dieser Plot folgt wie gesagt dem Muster eines Thrillers. Es wird also Opfer geben. In einem fast schon wieder witzigen Meta-Moment klagt Ellen: "It feels like asking the questions, visiting people, is causing them to die."

... mit sehr viel Kontext

Ellens Spurensuche läuft langsam genug ab, um uns schrittweise mit dem vertraut zu machen, worum es in "The Last Day" eigentlich geht: nämlich um eine moderne Demokratie, die sich mit der Entschuldigung eines äußeren Anlasses zur Diktatur gewandelt hat. The Great British Resurgence, von der die Propaganda tönt, als würde sich die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts wiederholen, steht in Wahrheit auf tönernen Füßen. Statt Aufschwung herrscht Mangel, auch wenn darüber nicht berichtet werden darf. Grundrechte wurden außer Kraft gesetzt, politisch Unliebsame werden hingerichtet oder als Arbeitssklaven auf die Felder des "Brotkorbs" geschickt, den urbar gebliebenen Teil des europäischen Festlands, den Großbritannien kurzerhand besetzt hat. Die Getreidelieferungen von dort sind das einzige, was den Verteidigungswall um die Insel noch passieren darf.

Man kann sich leicht ausmalen, was ein Stephen Baxter aus der Grundidee gemacht hätte. Er hätte gewiss eine glaubwürdigere Erklärung für den Stopp der Erdrotation gefunden als Murray, und sicher wäre er auch viel ausführlicher auf die sich daraus ergebenden physikalischen, biologischen, technologischen, etc. Folgen eingegangen. Und was die Reaktion der Menschheit anbelangt, da wäre bei ihm wohl alles auf ein visionäres wissenschaftliches Projekt hinausgelaufen, das durch Vernunft und Kooperation die Rettung bringt. (Wenn schon nicht für die gesamte Menschheit, dann zumindest für die Spezies an sich.)

Murray hingegen fokussiert aufs Politische und hat ein weniger optimistisches Menschenbild. "Britain Alone" lautet die Parole in seinem Zukunftsalbion, womit sich "The Last Day" in den stetig wachsenden Corpus der sogenannten Brexit-Literatur einfügt – wie zuletzt etwa John Lanchesters "Die Mauer", zu dem es einige Parallelen gibt. An Robert Harris' Alternativweltklassiker "Fatherland" wiederum erinnert das Handlungsmuster, nämlich die Spurensuche nach dem fundamentalen Geheimnis einer dystopischen Gesellschaft. Last but not least ähnelt Murrays Roman Will McIntoshs "Soft Apocalpyse" darin, wie die Schritt-für-Schritt-Verschlechterung der Lebensumstände beschrieben wird. The list of foods available shrank monthly. Hopper wondered when the last human would taste pepper, or coriander, or an orange. Diese Sätze könnten 1:1 in McIntoshs Roman stehen.

Stimmungsvoll

Überhaupt die Sprache! Als Ellen am Totenbett ihres Mentors steht, liest sich das so: And in the bed lay Edward Thorne, former saviour of England, now reduced to almost his simplest components: breath, and sight, and digestion, and little more. – Die Nüchternheit, in der "The Last Day" erzählt wird, war durchaus eine angenehme Überraschung. Andrew Hunter Murray kennen manche vielleicht von seinem Blog "No Such Thing As A Fish", hauptberuflich ist er Comedian und Gag-Schreiber. Für sein Romandebüt hat der Brite aber zu einem ganz anderen Stil gefunden, der dem Geschehen angemessen ist. Es ist ein düsteres Buch in düsteren Zeiten.