Foto: Ooligan Press

"Schrullig" ist wohl das Wort, das den meisten beim Lesen von "Odsburg" in den Sinn kommen wird. Das gilt für den Ort der Handlung, eine fiktive Kleinstadt im US-Bundesstaat Washington, die so merkwürdig ist wie Night Vale (ohne die Lacher) oder Wayward Pines (ohne das Grauen). Es gilt für die Form der Erzählung, in der uns Stadt und Bewohner vorgestellt werden. Und nicht zuletzt gilt es für den Erzähler selbst. Matt Tompkins' "Roman" (dieses Wort trifft nur sehr bedingt zu) hat die Form eines Buchs-im-Buch, und Hauptfigur Wallace Jenkins-Ross, ein Privatgelehrter und selbsternannter socio-anthropo-lingui-lore-ologist, präsentiert uns darin einige ausgewählte Ergebnisse seines zweijährigen Studienaufenthalts in der Stadt.

Unklare Ursachen

Seltsame Vorkommnisse hat es in Odsburg seit seiner Gründung im 19. Jahrhundert immer wieder gegeben – oder zumindest Menschen, die von solchen berichten. Erklärungsversuche gab es viele, vom Übernatürlichen bis zur nüchternen Anmerkung, dass nahe der Stadt eine psychiatrische Anstalt steht. Aber auch der in Odsburg ansässige Konzern OdsWellMore könnte seine Hand im Spiel haben. Man munkelt, dass das Unternehmen psychotrope Substanzen ins Grundwasser geleitet hat.

Laut sagen traut sich so etwas jedoch niemand, da OdsWellMore die ganze Stadt im Sack zu haben scheint. Auch unser wackerer Forscher berichtet von Einschüchterungsversuchen; Anwälte des Konzerns hätten ihm einen kaum verhüllten Drohbrief zukommen lassen. OdsWellMore wird uns im Verlauf der Seiten immer wieder begegnen, entweder direkt oder über seine Produkte. Ein Kapitel beispielsweise ist eine einzige mehrseitige Aneinanderreihung bizarrer Nebenwirkungen – z.B. uncomfortable fellatio – eines Medikaments. Insgesamt hat das aber eher den Charakter eines Running Gags als den eines Handlungsrahmens.

Pumas im Keller und Vater in den Wolken

Sag doch endlich einmal, von was für seltsamen Vorkommnissen hier eigentlich die Rede ist, höre ich einige Leser bis hierher. Nun, da hätten wir etwa einen Mann, der sich die Augen hat lasern lassen, und seitdem alle Welt in Flammen stehen sieht. Oder einen anderen, dessen Haut sich vollständig ablöst, was er als befreienden Abbau von Barrieren empfindet. Seltsam genug? Eine Perle ist auch die Episode über den Mann, der endlich seinen imaginären Freund aus Kindheitstagen loswerden möchte – erzählt wird die Geschichte nämlich aus der Warte der Fantasiegestalt.

Andere Geschichten liegen näher an der Grenze zwischen dem Unmöglichen und dem Möglichen, man könnte sie dem Slipstream-Genre zuordnen. Da berichtet etwa ein Ingenieur, dass beim Bau seines Hauses eine Familie von Pumas im Keller eingemauert wurde. Die kratzen nun jede Nacht an der Tür zum Wohnbereich und müssen gefüttert werden, damit sie nicht über die Menschen herfallen. Es ist die Klage eines Mannes, dessen bürgerliche Existenz auf dem Spiel steht. Und wie so viele andere Figuren in "Odsburg" wird er mit seinen Ängsten allein gelassen.

Manche der Geschichten sind sehr berührend. Wie die über eine 80-jährige Frau, die überall in ihrem Haus Bilder von Mikrofonen angebracht hat. Denn der Anblick eines Mikrofons ist das einzige, was ihren dementen Ehemann, einen ehemaligen Sportreporter, zum Sprechen bringen kann. So ist er wieder aufgeblüht und kommentiert die Alltagsabläufe daheim so inbrünstig wie ein Match. – Und ein Deputy glaubt, dass sein Vater einst nicht einfach abgehauen, sondern verdampft sei. Darum sieht er ihn überall dort, wo Wasser ist – seien es Wolken, ein Fluss oder nur eine volle Kaffeetasse.

Der Lauscher an der Wand

Wie unser Forscher zu diesen intimen Einblicken gekommen ist? Nur zum Teil durch direkte Befragung, wie er zwischendurch bekennt. Wallace ist auch in Büschen gesessen und hat Gespräche belauscht, hat Mülltonnen durchwühlt und ist in Häuser eingedrungen, um Schubladen zu öffnen. The goal is to be invisible in plain sight, beschreibt er seine Herangehensweise als embedded participant-observer. Im Grunde ist er ein klassischer Creep; immerhin räumt er einmal großzügig die Möglichkeit ein, dass man ihn als "impertinent" empfinden könnte. Aber es ist schließlich alles nur für die Forschung!

Dass "Odsburg" als Sammlung von Oral History und Dokumenten aller Art – inklusive bekritzelten Servietten und sonstigen "Marginalia" – angelegt ist, hat freilich auch einen handfesten Grund, der außerhalb der Buchwelt liegt: US-Autor Matt Tompkins hat bisher ausschließlich Kurzgeschichten und (noch kürzere) Flash Fiction veröffentlicht, das setzt sich hier weitgehend ungebremst fort.

Am Ende: Menschlichkeit

Es gibt keinen wirklichen Plot, das Buch ist eine Aneinanderreihung von Vignetten, die man als Kurz-Psychogramme bezeichnen könnte. Manche davon sind berührend, andere verblüffend, wieder andere reiner Selbstzweck und damit entbehrlich. Ich persönlich hätte mir gewünscht, dass Tompkins die Hälfte davon rausnimmt, um den wirklich guten mehr Platz zu geben. Auf jeden Fall würde ich aber empfehlen, dass man "Odsburg" in kleinen Portionen liest, um die einzelnen Episoden wirken zu lassen; einen Gedichtband schlingt man schließlich auch nicht in einem Rutsch von Deckel zu Deckel runter. Und einige der Geschichten hier werden lange nachwirken.

Gönnen wir unserem Forscher/Creep das Schlusswort. Denn auch wenn er zur Selbstglorifizierung neigt und sich fragwürdiger Methoden bedient, könnte seine Begründung, warum er (bzw. Tompkins) uns diese Geschichten vorlegt, nicht schöner sein: Because it is my belief that through the sharing of stories we may become better connected, kinder, more empathetic, both as individuals and as a society. That through sharing stories, we may elevate one another in our shared humanity.