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Es wurde schon prognostiziert, dass Amazon seine Vormachtstellung im Online-Versandhandel in Folge der Corona-Krise noch weiter ausbauen wird. Das scheint mir der richtige Zeitpunkt dafür, ein Buch aus dem Vorjahr nachzutragen, in dem das alleserdrückende Ausbeutungssystem eines Konzerns beschrieben wird, neben dem sich selbst Amazon (noch ...) wie der Greißler am Eck ausnimmt. Cloud ist eine Megakrake, die nicht nur Konkurrenzunternehmen, sondern ganze Wirtschaftssektoren aufgekauft hat.

So nahe wie das Morgen

Klimawandel, Massenmigration auch innerhalb der einstmals reichen Länder, Niedergang staatlicher Strukturen und zerfallende Infrastruktur: Es ist eine düstere Welt, die den Hintergrund für Rob Harts Roman "Der Store" abgibt; und eine, die nur ein beunruhigend kleines Stück in der Zukunft liegt. "Die großen Freiheiten, die es in meiner Kindheit noch gab, haben sich schon vor so langer Zeit in Luft aufgelöst, dass man sich kaum daran erinnern kann. Früher war es nicht allzu schwer, seinen Lebensunterhalt zu verdienen und ein Häuschen zu bauen. Nach einer Weile wurde das zu einem Luxus und schließlich zu einem reinen Wunschgedanken."

Wahre Worte – auch wenn man dem, der sie ausspricht, nicht über den Weg trauen darf. Es ist Gibson Wells, der Gründer von Cloud. Er gibt zu Romanbeginn bekannt, dass er bald sterben wird, und lässt nun – parallel zur Haupthandlung – noch einmal die Erfolgsgeschichte seines Lebens Revue passieren. Er habe Wohlstand für alle geschaffen ("Cloud ist die Lösung für alle Bedürfnisse!"), heißt es da salbungsvoll. Zwischen den Zeilen offenbart Wells aber immer wieder seine Skrupellosigkeit. Er akzeptiert keinerlei Regeln, die seine Expansionsgelüste auch nur im mindesten einschränken würden. Und er hat gewonnen: Als De-Facto-Monopolist im Handel verfügt er nun im Land über mehr Macht als selbst der US-Präsident.

Auf der untersten Hierarchiestufe

Im Mittelpunkt der Handlung stehen aber Leute wie du und ich. Paxton ist ein ehemaliger Kleinunternehmer, der ein potenziell einträgliches Patent entwickelt hat – doch wurde seine Firma von Cloud ruiniert. Dennoch bewirbt er sich nun bei Cloud. Anderswo findet man ohnehin keine Jobs mehr, zudem hegt Paxton – bei aller Gutmütigkeit, die ihm zu eigen ist – aber auch einen Plan: Er möchte unbedingt einmal Wells gegenüberstehen und ihn zur Verantwortung ziehen.

Die abgebrühte Zinnia, die Paxton auf dem Weg zur Bewerbung kennenlernt, ist die zweite Hauptfigur. Während er der Security zugeteilt wird, landet sie dort, wo das schwarze Herz von Cloud pocht – im Warenlager. Regalreihen erstreckten sich in die Ferne, so weit das Auge reichte. Der Raum hatte tatsächlich eine Horizontlinie. Knochenarbeit, Quotenvorgaben, kaum Pinkelpausen während der Neun-Stunden-Schichten und natürlich keine Gewerkschaft: Es ist die Hölle, aber Zinnia steckt alle Mühen ohne Klagen weg. Denn auch sie hat eine geheime Agenda: Sie wurde von einem unbekannten Auftraggeber eingeschleust, um die Geheimnisse von Cloud aufzudecken. Und sie ist ein Profi in ihrem Job.

Die Stadt in der Wüste

Aus praktisch derselben ökonomischen Ausgangslage wie "Der Store" hat Margaret Atwood vor ein paar Jahren in "The Heart Goes Last" ein zynisches Sozialexperiment entworfen: ein Dorf, in dem man die Hälfte der Zeit komfortabel lebt und in der anderen Sklavenarbeit verrichtet. Dem setzt US-Autor Rob Hart in seinem ersten ins Deutsche übersetzten Roman die Vision einer Arkologie entgegen.

Denn Paxton und Zinnia arbeiten und leben von nun an in einem gigantischen Gebäudekomplex, den Cloud mitten in der Wüste aus dem Boden gestampft hat. Rund um die Uhr von Drohnen umschwärmt, die Clouds Pakete ausliefern, umfasst er neben dem gigantischen Logistikbereich auch Wohneinheiten, Freizeitanlagen und Schulen. Alle Bedürfnisse der Mitarbeiter sollen vor Ort gestillt werden können, und im Vergleich zur Außenwelt kann man hier tatsächlich ganz gut leben (zumindest solange man bis zum Umfallen schuftet; und nach dem Umfallen wieder aufsteht und weiterschuftet).

Eine besondere Ironie ist, dass die Anlage das Leben in einer Kleinstadt simulieren will – ein kuscheliges Retro-Lebensgefühl, denn echte Kleinstädte gibt es gar nicht mehr. Sie haben allesamt dem ökonomischen Druck Clouds nachgegeben und sind zu Geisterstädten geworden. Ein solches Beispiel lernen wir gleich zu Beginn kennen, als Paxton und Zinnia in eine aufgelassene Stadt gekarrt werden, in der nur noch das Gebäude fürs Assessment-Center von Cloud geöffnet hat. Wie Zombies trotten die Bewerber durch die Hitze auf das Gebäude zu – und vor dem Letzten in der Reihe gehen die Türen zu: der war offensichtlich nicht engagiert genug ... Es ist ein erster Vorgeschmack auf den Zynismus, der ihr Leben künftig bestimmen wird.

1984 war einmal

Die Mitarbeiter werden wie Produkte mit einem Sterne-Ranking versehen, und jeder hat Angst vor dem Bilanztag: Dann werden nämlich die, die ihre Quoten nicht erfüllt haben, aus der Siedlung geworfen; jedesmal kommt es an solchen Tagen zu einer Selbstmordwelle. Wie es an einer Stelle heißt: "Jetzt ist man ein Wegwerfartikel, der Wegwerfartikel verpackt."

Gleichschaltung, Ausbeutung, ständige Überwachung (mittels CloudBand, einer Art SmartWatch, ohne die man nicht einmal Türen öffnen kann) und drakonische Strafen: "Der Store" greift nahezu alle Motive klassischer Dystopien des 20. Jahrhunderts auf und zeichnet Cloud als totalitäres System, das Orwells Ozeanien oder Huxleys Weltstaat ähnelt wie ein faules Ei dem anderen. Der einzige Unterschied: Statt eines staatlichen Akteurs ist nun einer aus der Wirtschaft am Drücker. Die Welt hat sich seit "1984" spürbar weitergedreht.