Foto: Fischer Tor

In den frühen 90ern war ich in Stockholm in der Ausstellung eines satirischen Kunstprojekts, das die Geschichte des fiktiven Konzerns "Bonk" erzählte. Der habe eine Methode gefunden, aus Heringen Strom zu erzeugen, woraus schließlich eine herrlich skurrile Technologie entsprang. Simon Stålenhag muss damals ungefähr zehn gewesen sein, also im beeinflussbarsten Alter. Gut möglich, dass er diese Ausstellung auch besuchte, und sie zu einem der vielen Einflussfaktoren auf sein einzigartiges Schaffen wurde.

Denn auch sein Bildband "Tales from the Loop" hat als Hintergrund die Geschichte eines ökonomischen Großprojekts mit aberwitzigem Techno-Erbe. Wie "Bonk" wird uns dieses über Faksimiles von PR-Flyern, Skizzen und natürlich Bilder von umwerfender Optik vorgestellt. Allerdings war es ein Projekt von etwas ernsterer Natur. Prämisse: In den 1960ern ließ die schwedische Regierung am Mälarsee einen gigantischen Teilchenbeschleuniger – den Loop des Titels – errichten, der in seiner Umgebung für seltsame physikalische Effekte sorgte. Es sollen sogar Tore in andere Welten aufgestoßen worden sein.

Die Welt

Wie schon im grandiosen Band "The Electric State", den Fischer Tor im vergangenen Jahr herausgegeben hat, begeben wir uns in eine alternative Vergangenheit, in der Kybernetik und Robotik schon früh spektakuläre Erfolge hervorbrachten. Wir lesen von schwebenden Magnetrinschiffen und Gaußfrachtern, die wir dann natürlich auch zu sehen bekommen. Oft schön den Saabs und Volvos gegenübergestellt, die in den 80ern gerade en vogue waren. An dieser Stelle bietet sich ein Video an, das einige Eindrücke aus dieser retrofuturistischen Welt gibt:

TomasFriaLigan

Die Bildmotive lassen sich in mehrere thematische Gruppen unterteilen. Zu den Fahrzeugen kommen noch atemberaubendere Mega-Konstrukte wie "die Bögentürme von Klövsjö", die wie gigantische Speichenräder über der Landschaft aufragen. – Eine weitere Gruppe sind Roboterbilder. Ein wahres Roboterparadies seien die Mälarinseln in der Ära des Loop gewesen, schreibt Stålenhag in einer der textlichen Vignetten, die seine Bilder begleiten. Manche dieser Roboter hätten auch einen eigenen Willen entwickelt und seien ausgebüxt – einen sehen wir etwa, der sich wie ein scheues Tier im Garten eines Einfamilienhauses herumdrückt.

Eine kleine Hommage an "Jurassic Park" zeigt ein Kind, das mit einer Leuchtfackel in der Hand einen Riesenroboter anlockt wie weiland den T. rex. Was uns auch schon zur letzten Motivgruppe bringt, die vielleicht nicht ganz so einleuchtend ist wie die technologischen Visionen: Dinosaurier-Bilder. Gerechtfertigt werden sie damit, dass der Loop ein Portal in andere Welten und Zeiten geöffnet habe. Aber seien wir ehrlich: Stålenhags ganzes Schaffen ist die Verbildlichung der Wunschträume von Prä-Teens – und da gehören Dinos halt genauso dazu wie Riesenroboter und sonstige Wundertechnologie.

Das narrative Element

Kinder spielen in diesem Band eine zentrale Rolle. Nicht nur, weil sie im Bild als Verkörperung des Normalen dem (für uns) Fantastischen gegenübergestellt werden und damit dieses Stålenhag-typische Gefühl der Realitätsverschiebung hervorrufen. Sie geben dem Band auch die narrative Struktur. "Tales from the Loop" ist als Sammlung kurzer Episoden angelegt, die auf den Erinnerungen jener Kinder beruhen, die im Umfeld des Loop aufwuchsen.

Es sind Erinnerungen, wie man sie – außer vielleicht in der Stadt Eureka der gleichnamigen TV-Serie – nirgendwo sonst sammeln könnte. Wie die Zwillingsbrüder, die nach dem Betreten einer merkwürdigen Stahlkapsel miteinander die Körper getauscht haben. Oder der Junge, der Velociraptoren sichtet. Und vielleicht wird ja auch anderswo ein Bub von fiesen Mitschülern in einen Schrank gesperrt, die ihm hämisch erklären, dass gleich ein Schwarzes Loch die Welt verschlingen werde ... doch nur am Loop muss er fürchten, dass das tatsächlich geschehen könnte.

Vorlage für eine TV-Serie

Insgesamt hat "Tales from the Loop" etwas weniger Kohärenz als "The Electric State", das ja eine durchgehende Geschichte erzählte. Auch die Bilder haben noch nicht ganz den Feinschliff späterer Werke. Es war der erste von Stålenhags Bildbänden, und Fischer Tor hat die richtige Taktik gewählt, die Werkschau mit dem jüngsten Band zu beginnen. Wer von "The Electric State" begeistert war, wird aber auch in dieser Welt wieder wonnevoll versinken.

Der lose Charakter der "Tales" war allerdings sicher kein Nachteil für die Macher der TV-Serie, die auf dem Band beruht. (Müsste dieser Tage auf Amazon Video angelaufen sein, wenn das Coronavirus sie nicht noch ausgebremst hat). Die konnten Stålenhags Bildwelten übernehmen und hatten relativ freie Hand, was die Ausgestaltung des Grundkonzepts "Erinnerungen an eine Vergangenheit, die es niemals gegeben hat" betrifft.

Amazon Prime Video

Zwischen den Zeilen erzählt der Band freilich noch eine andere Geschichte: nämlich die vom Niedergang einer Ära. Der Loop wurde 1994 stillgelegt, der Großteil der Technologie, die wir hier zu sehen bekommen, ist Schrott. Stålenhags Wunder haben den gleichen Weg genommen wie die Schwerindustrie in unserer Welt. Die Zeit der analogen Rekorde ist vorbei, technologische Großprojekte treten in den Schatten der digitalen Vernetzung. Symbolisch dafür: Am Ende des Bands betreten unsere kleinen Helden die Schwelle zum Erwachsenwerden. Sie wenden sich von dem mit Echokugeln und Sätuna-Spinnen übersäten Abenteuerspielplatz ihrer Kindheit ab und setzen sich an den Computer. Unser Zeitalter hat begonnen.