Robert Pfaller sieht Kleinunternehmer und auch Künstler in einer bedrohlichen Situation.

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An seinen Thesen scheiden sich die Geister: Unsere Gesellschaft ist für den Philosophen Robert Pfaller von Lustverzicht und Askese geprägt. In Werken wie Wofür es sich zu leben lohnt oder Erwachsenensprache schrieb Pfaller gegen eine heutige "Verbotsgesellschaft" an. Wir erreichen Pfaller an seinem Rückzugsort im Waldviertel. Der Empfang ist schlecht, also beantwortet er unsere Fragen per E-Mail.

STANDARD: Ein Satz von Ihnen lautet: "Entscheidend ist, dass wir uns nicht ständig vor dem Tod fürchten, sondern vielmehr vor schlechtem Leben." Können wir in der jetzigen Situation ein gutes Leben führen?

Pfaller: Da Geselligkeit und Freundschaft ein entscheidender Teil unseres guten Lebens sind, kann der derzeitige Zustand höchstens ein Provisorium sein. Wie gut das Leben in diesem Provisorium dann noch ist, hängt vor allem von den Ressourcen der Beteiligten ab. Wer alleine oder aber in einem größeren Familienverband in einer Kleinwohnung in der Stadt dahinvegetieren muss und wer von seinen Einkünften abgeschnitten ist wie viele Einpersonenunternehmen, ist in diesen Tagen wirklich nicht zu beneiden. Wer sich dagegen mit seinen Liebsten zum Beispiel in einem einsamen Landhaus befindet und eine Arbeit hat, die sich wenigstens teilweise von zu Hause aus betreiben lässt, merkt eine Zeitlang fast keinen Unterschied zum Normalzustand.

STANDARD: Was macht ein solch strenges Reglement mit uns? Können wir auf ureigenste Bedürfnisse wie die Nähe zu anderen einfach verzichten?

Pfaller: Wir können es höchstens vorübergehend. Mir fällt auf, dass selbst zu ferneren Verwandten oder Freunden jetzt eilig der Kontakt per Mail, Telefon oder Brief gesucht wird. Unter normalen Bedingungen hätten wir manche Leute vielleicht wohl länger unbehelligt gelassen.

STANDARD: Ausgangsbeschränkungen, keine geselligen Zusammenkünfte und die zunehmende Überwachung des Einzelnen: Erleben wir derzeit das, was Foucault eine "Disziplinargesellschaft" genannt hat?

Pfaller: Nun, der Ausnahmezustand bringt eine für uns ungewohnte Vorherrschaft repressiver Apparate wie Polizei, Grenzschutz oder Militär mit sich. Das mag ein wenig an manche Militärdiktaturen erinnern. Mit dem Begriff der Disziplinargesellschaft versuchte Foucault jedoch nicht den Ausnahmezustand, sondern das normale Funktionieren von Macht in westlichen Gesellschaften etwa von der Zeit Napoleons bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zu beschreiben. In der Disziplinargesellschaft schloss man die Individuen kollektiv in bestimmten Institutionen (Schule, Gefängnis, Kaserne, Psychiatrie etc.) ein, um sie zu disziplinieren. Uns hingegen diszipliniert man heute, um uns individuell einschließen zu können.

STANDARD: Verbote und Kontrollen rufen sehr schnell Gegenreaktionen hervor. Rechnen Sie auch im jetzigen Fall damit?

Pfaller: Die Immunologen und Epidemiologen streiten im Moment offenbar über die Frage, ob es sich um eine außergewöhnlich ansteckende und gefährliche Krankheit oder aber "nur" um eine etwas modifizierte Grippe handelt. In jenen Ländern, in denen es bisher eher nach Letzterem aussieht, lässt sich schon jetzt ein aufbegehrendes Murren der Wirtschaft vernehmen. In den USA hat der Staat diesem Druck bereits nachgegeben. Und Bürgerrechtlerinnen in Deutschland fordern eine "Baseline"-Studie, die Aufschluss über die tatsächlich bestehende Gefahr sowie über die Sinnhaftigkeit der extremen Notmaßnahmen verschaffen soll.

STANDARD: Sie haben in der Vergangenheit davon gesprochen, dass unsere Gesellschaft eine "Maßlosigkeit im Mäßigen" auszeichnet. Würden Sie sagen, dass die Gesellschaft, zynisch gesprochen, in der jetzigen Situation bei sich ist?

Pfaller: Es gab in den reichen Ländern in den letzten Jahren "gesundheitsreligiöse" und asketische Fanatismen, zum Beispiel hinsichtlich von Ernährung und Genussmitteln und von "Selbstoptimierung", sowie auch selbstauferlegte staatliche Sparzwänge, ohne dass es irgendeine akute Not gegeben hätte. Zugleich haben Regierungen Verbote und Warnungen in Fragen ausgeteilt, welche die Individuen sehr gut hätten selbst regeln können. Jetzt hingegen sind wir mit einer Situation konfrontiert, in der Regierungen die Not einschätzen und Entscheidungen treffen müssen, welche die Individuen unmöglich für sich selbst treffen können.

STANDARD: Es ist erstaunlich, wie schnell die Einschränkung von Freiheitsrechten vonstattenging. Hat Sie die Einstimmigkeit der Maßnahmen überrascht?

Pfaller: Nein. Denn für ihre Freiheitsrechte kämpfen die Menschen dann, wenn ihre Grundversorgung und ihr Wohlstand entweder sichergestellt oder aber bereits verloren sind. In den letzten Jahren aber haben viele um ihre Grundversorgung und um ihren Wohlstand zu zittern begonnen. So haben sie auch gewählt. Im selben Maß wurden sie den Fragen von Freiheitsrechten und Grundrechten gegenüber eher gleichgültig. Abgesehen davon erscheint es natürlich vernünftig, angesichts einer Bedrohung, deren Ausmaß sich schwer erkennen lässt, lieber einmal zu vorsichtig zu sein als zu wenig.

STANDARD: "Die Corona-Krise ist ein großer Test, wie wir mit unseren Bürgerrechten umgehen", hat der Historiker Noah Harari kürzlich in der "Financial Times" geschrieben. Sind wir für diesen Test gut gerüstet?

Pfaller: Sicherlich erzeugt die Krise – ähnlich wie die Anschläge von 9/11 – bereits jetzt einen neuen Boom für die Überwachungstechnologie. Es werden sich auch genügend Vorwände finden lassen, um diese Technologien weit über die Dauer der Krise hinaus einzusetzen. Und es wird wenig Widerstand dagegen geben. Ich denke, Harari hat da recht: Wenn die Leute glauben, zwischen ihrer Privatsphäre und ihrer Gesundheit wählen zu müssen, dann entscheiden sie sich für die Gesundheit.

STANDARD: In Ungarn versucht nun Premierminister Viktor Orbán die Krise dazu zu benutzen, das dortige Parlament auszuhebeln. Sehen Sie auch bei uns demokratiepolitische Gefahren, die mit dem jetzigen Ausnahmezustand einhergehen?

Pfaller: Zu sehen, dass der Staat entschlossen handelt, könnte auch ermutigend wirken. Dies hat er zum Beispiel in der Finanzkrise ja unterlassen. Allerdings fürchte ich, dass die aktuelle Krise die Spaltung zwischen Arm und Reich in unserer Gesellschaft vergrößern wird. Genau diejenigen, die vom Staat fordern könnten, dass er sich für mehr Gleichheit in der Gesellschaft, für die Regulierung der Finanzmärkte, gegen das Diktat der Austeritätspolitik und anderes starkmacht, werden nach der Krise wohl zu geschwächt sein, um das zu tun.

STANDARD: Worauf müssen wir in der jetzigen Situation besonders achtgeben?

Pfaller: Neben dem biologischen Überleben müssen wir auch das ökonomische Überleben sicherstellen. Für Kleinunternehmen, Künstler und viele andere ist die aktuelle Situation existenzbedrohend – insbesondere, nachdem die Bundesregierung ausgerechnet beim Ausbruch der Seuche das alte Seuchengesetz aufgehoben hat, das eine staatliche Entschädigung solcher Betriebe vorgesehen hatte. Auch die übrigen Schäden der Notmaßnahmen müssen natürlich im Auge behalten und besonnen abgewogen werden – zum Beispiel der drastische Anstieg der häuslichen Gewalt. Es nützt nichts, die Leute vor Ansteckung zu schützen, wenn sie sich dann vor lauter Lagerkoller zu Hause totschlagen.

STANDARD: Wie werden wir nach der momentanen Krise wieder in einen Normalzustand zurückfinden können?

Pfaller: Das hängt vor allem davon ab, ob es gelingt, das ökonomische Überleben eines beträchtlichen Teils der Gesellschaft zu gewährleisten. Die Rechte der Bürgerinnen und Bürger möglichst bald wiederherzustellen ist das eine. In welchem Maß sie diese dann überhaupt noch wahrnehmen können, ist die andere, wohl noch schwierigere Frage.(Stephan Hilpold, 30.3.2020)