Man sollte eines nicht aus dem Blick verlieren, warnt Philosophin Elisabeth Holzleithner: Sicherheitsmaßnahmen müssen schlussendlich der Freiheit dienen.

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Verlässt man derzeit das Haus, beschleicht einen ein ungutes Gefühl. Die gewöhnlich gut gefüllten Straßen, durch die man kurz nach Sonnenuntergang spaziert, sind nahezu leer. Nur hie und da kläfft ein Hund. Menschen erscheinen im öffentlichen Raum zurzeit als Fremdkörper.

Gut zwei Wochen ist es her, dass Gerüchte von Ausgangssperren die Runde machten und Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) versicherte, dass es diese nicht geben werde. Kurz darauf wurde das Betreten des öffentlichen Raums verboten. Seither braucht man einen Grund, warum man dies trotzdem tut. Fünf Ausnahmen wurden festgelegt, die den erlaubten Rahmen abstecken.

Vor wenigen Tagen sprach Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) noch davon, dass nach Ostern eine "Phase der neuen Normalität" eintreten werde. Erst wenn ein medizinisches Gegenmittel zum Virus gefunden wurde, könne das Leben wieder seinen gewohnten Lauf nehmen. Seit Montag wissen wir, dass es noch länger dauern wird als bisher angenommen. Das bedeutet auch, dass große Teile unserer Grundrechte noch länger außer Kraft gesetzt sind. Niemand weiß, wie lange dieser Zustand, der staatlich verordnete Notbetrieb, noch andauern wird.

Ist das eine Gefahr für unsere Demokratie?

Nicht zwingend, sagt Elisabeth Holzleithner, Professorin für Rechtsphilosophie an der Universität Wien: Die Grundrechtseingriffe seien selbstverständlich gravierend. Der aktuelle Zustand sei aber demokratisch hergestellt worden, und der Rechtsstaat sei intakt. Man müsse eben dringend darauf achten, dass die Einschränkungen nur punktuell erfolgen und zeitlich beschränkt bleiben. "Ich hege keinen Zweifel daran, dass es zu den Ratschlägen der Virologen derzeit keine Alternative gibt", sagt auch der Soziologe Sighard Neckel, Professor für Gesellschaftsanalyse an der Universität Hamburg. Keinesfalls dürfe man aber das Bewusstsein darüber verlieren, dass "die Ausnahme nicht zu einem Vorbild für eine neue Regel werden darf."

Der Freiheit dienen

Wie sehr sich die Alltagsformel des Ausnahmezustands an die realpolitische Situation annähern kann, zeigt sich etwa in Ungarn. Der reaktionäre Staatsrechtler Carl Schmitt erblickte das Wesen des Souveräns darin, über den Ausnahmezustand zu entscheiden, über die Unterscheidung zwischen Freund und Feind. Die Corona-Krise sei aber das beste Beispiel dafür, dass der Bezugspunkt der Politik eben nicht der Ausnahmezustand sein könne, sagt Soziologe Neckel: "Vielmehr brauchen wir die gegenseitige Kooperation zum Wohle aller."

Und diese Kooperation bedeute im Augenblick den Verzicht auf individuelle Rechte. "Es macht einen Unterschied, ob man auf die individuellen Rechte temporär aus vernünftigen Gründen verzichtet oder ob man der Meinung ist, dass diese Rechte im Grunde von vornherein beschränkt sein müssen", sagt Neckel. Es gehe also darum, "sofort" zu den vollen Grundrechten zurückzukehren, sobald Alternativen zu den aktuellen Beschränkungen sichtbar werden.

Dass dies hierzulande geschieht, ist sehr wahrscheinlich. Von einem Automatismus auszugehen wäre trotzdem gefährlich: "Es wird einer gemeinsamen Anstrengung bedürfen, diesen Ausnahmezustand wieder völlig zu beenden", sagt Philosophin Holzleithner. Letztlich gehe es darum, dass die Maßnahmen, die zur Sicherheit gesetzt werden, der Freiheit dienen sollen. "In einem Sicherheitsstaat ist Freiheit erstickt."

Ungleichheit unter Brennglas

Wiewohl bei genauerem Hinsehen sichtbar wird, was sich ganz ohne Corona-Krise schon anbahnte. Denn die Gefahren für die Demokratie sind schon länger da: Man erlebe seit Jahren eine Verschiebung hin zu einer "Versicherheitlichung", sagt Holzleithner – etwa im Rahmen der Terrorbekämpfung. "Dass eine Krise wie die jetzige dazu führen kann, dass sich die Verschiebung noch einmal verstärkt und Grundrechte fast als Bedrohung wahrgenommen werden – das ist schon eine Gefahr, der man versuchen muss entgegenzuwirken."

Man könnte die aktuelle Krise also auch als Augenöffner dafür sehen, was in unserer Gesellschaft längst angelegt war. Dasselbe gilt für die sozialen Verhältnisse: "Die Krise bringt Ungleichheit wie unter einem Brennglas zum Vorschein", sagt Neckel. Umso prekärer das Leben, mit umso mehr Wucht treffen einen die Auswirkungen. "Diejenigen in großen Altbauwohnungen haben natürlich eine bessere Situation als die mit beengten Verhältnissen, die womöglich auch noch mit 60 Prozent ihres Gehalts auskommen müssen." Hinzu kommt der Faktor, dass soziale Ungleichheit womöglich als Ansteckungsbeschleuniger dienen könnte, wenn man trotz Krankheit in die Arbeit geht, weil man sich den Krankenstand nicht leisten kann.

Ob es zu noch weitreichenderen Eingriffen kommt, wird vermutlich davon abhängen, wie sich die Fallzahlen entwickeln und ob die jetzigen Maßnahmen wirken. Deswegen sei es auch nicht paranoid, sich über weitere Verschärfungen Gedanken zu machen, sagt Holzleithner. Gibt es eine Grenze, die keinesfalls überschritten werden darf, die man im Vorhinein festlegen kann? Dass Testverweigerer wie etwa in Großbritannien inhaftiert werden können, sei zum Beispiel "äußerst problematisch", meint die Philosophin. Unverrückbar bliebe aber in jedem Fall, dass es die Möglichkeiten geben müsse, sich auf rechtsstaatlichem Weg gegen etwaige Amtshandlungen und Strafen zu wehren. Ein definitives Stoppschild stelle das Verbot der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung, kurz: die Menschenwürde dar: "Die ist tabu."

Großer politischer Druck?

Warum halten wir das momentan noch ganz gut aus? "Weil wir die katastrophale Situation in italienischen Spitälern sehen", sagt Holzleithner. Einen weltweiten Shutdown, der sich auf fast allen Kontinenten zeitgleich abspielt – diese Erfahrung habe eine moderne Gesellschaft noch nicht erlebt, gibt Neckel zu Bedenken. Deshalb könne man die Frage schlicht nicht beantworten.

Spannend wird aber wohl ohnehin nicht nur sein, wie lange der gegenwärtige Zustand noch erträglich bleibt, sondern wohin sich die Gesellschaft nach der Krise entwickeln wird – ob der breiten Bevölkerung auch der Prä-Corona-Zustand weiterhin als akzeptabel erscheinen wird. Neckel prognostiziert einen großen politischen Druck, was die Beseitigung sozialer Ungleichheiten betrifft – etwa die Bezahlung der unteren Lohngruppen. Es werde sich zeigen, ob er ausreicht, um etwas zu verändern. (Vanessa Gaigg, 31.3.2020)