Das Fitnessstudio, in dem Lena nun einige Monate gearbeitet hatte, schloss seine Pforten und kündigte beinahe das gesamte Personal. Die Frau ohne Eigenschaften war arbeitslos geworden. Die nächsten Wochen hieß es für sie, sich in biedermeierliche Zeiten zurückzuversetzen und die Hausfrauenschürze anzulegen. Sie erklärte sich bereit, im Haushalt mitzuwirken und mit Zuwendung und Kochen die seelisch aufbauende und nährende Kraft zu werden. Ein Vorgeschmack auf die Mutterschaft?

In all dem Trubel machte sie sich ein wenig Sorgen um ihre Schützlinge, die sie vor den Zeiten des Rückzugs tagtäglich im Gym betreut hatte. Sie waren ihr ans Herz gewachsen. Ihr fehlten die Triathleten, die fitten Oldies und die jungen Frauen, die man früher womöglich als Cheerleader bezeichnet hätte.

Gegen den Uhrzeigersinn.
Foto: Michael Grilz

Leben ohne Fitnessstudio?

Die Frau ohne Eigenschaften fragte sich: "Was machen die ganzen Menschen nun, wenn sie nicht mehr ins Fitnessstudio gehen? Womit beschäftigen sich die, die sich sonst auf dem Laufband Tierdokus auf ihrer Smartglotze anschauen?"

Lena konnte sich nicht vorstellen, dass diese nun womöglich ihr Rad aus den Untiefen des Kellers herauszögen und nicht mehr ihre Mukis, sondern den Drahtesel aufpumpten.

"Und wie würde es ihnen beim Radfahren im Freien gehen? Würden sie, die Kühe auf der Weide erkennen, an denen sie vorbeifahren, und das merkwürdige Gezwitscher im Wald wahrnehmen? Würde ihnen der Kopf vom Stimmenmeer der Vögel dröhnen? Würden sie womöglich, von der ganzen Waldluft einen Hustenanfall bekommen, weil sie ihnen so fremd ist?", überlegte Lena, während sie aus dem Fenster blickte und eine vorbeirennende Atemschutzmaske beobachtete. Gerade in Zeiten wie diesen galt es ja sämtliches Ausströmen von Tröpfchen zu vermeiden.

Wald - die neue Anziehungskraft.
Foto: Michael Grilz

"Ach, wie liebe ich mein Fahrrad, warum das weiß ich nicht genau."

Später grübelte Lena weiter: "Würden den Menschen die Neonröhrenleuchten abgehen und sie entsetzt die Hand vor das Gesicht beim Anblick einer sich in einem Weiher spiegelnden Sonne halten? Würden sie den Geruch von frisch gefällten Bäumen aus Kindertagen wieder erkennen, als sie noch im Wald spielten, anstatt sich auf dem Stepper zu quälen? Würden sie merken, wie angenehm es ist, wenn sie am See angekommen vom Rückenwind am Rad Erleichterung verspüren? Und wie würden sie mit all dem Vitamin D umgehen, das sie plötzlich draußen tankten? Würden sie es vertragen?"

In den nächsten Wochen macht sich Lena darauf gefasst, dass erstaunliche Dinge geschehen würden. Sie war gespannt auf das Kommende und fühlte sich zugleich etwas unrund aufgrund der bevorstehenden gesellschaftlichen Veränderungen. Für heute hieß es aber, die Gedanken ruhen zu lassen und die Yogamatte für ihre eigene Praxis auszurollen. (Katharina Ingrid Godler, 2.4.2020)

Fingerzeig

  • Musikalische Begleitung: Mein Fahrrad – Die Prinzen. Der letzte Zwischentitel ist ein Zitat aus diesem Lied.
  • Michael Grilz (Geo- und Fotograf) hat sich, selbstverständlich mit einem Meter Mindestabstand zu anderen Waldbegeisterten, auf Fotosafari für diesen Beitrag begeben.

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