Normalerweise, schreibt Jen A. Miller, hätte sie für all diese neuen Läuferinnen und Läufer Standardtipps parat. Aber derzeit, so die Laufkolumnistin der "New York Times", sei eben alles anders. Derzeit gelte nur eines: Tut es! Lauft! Geht! Hüpft! Bewegt euch! Und sei es in den durchgelatschtesten Sneakern, in dicken Baumwoll-Jogginghosen und mit vollem Impact auf die Ferse. Das ist, schreibt Miller in ihrem Newsletter, jetzt aber wurscht. Vollkommen wurscht. Denn alles, was zählt, ist, sich zu bewegen. Gegen den Lagerkoller. Gegen die Angst. Gegen die Einsamkeit und für die Hoffnung. Weil Laufen – Bewegung, Rausgehen – mehr ist als Sport. Gerade jetzt: Es ist Leben. Und das brauchen wir jetzt mehr als je zuvor. Urbi et orbi.

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Ich bin "Team Miller". Ohne Wenn und Aber. Denn nicht nur die New York Times-Autorin sieht derzeit mehr Läuferinnen und Läufer als je zuvor. Und vielen davon sieht man an, dass sie alles andere als geübt oder versiert sind.

Und manche sind unsicher: Der omnipräsente "Stayathome"-Hashtag, die Appelle daheimzubleiben, das Social Distancing oder die schrittweise Einführung der Maskenpflicht in vielen (halb)öffentlichen Räumen – all das stehe doch im Widerspruch zum gleichzeitig postulierten "Rennt, bewegt euch!", das nicht nur Laufjunkies wie Miller und ich postulieren, sondern auch Sportmediziner wie Robert Fritz von der Wiener Sportordination predigen.

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Tut es aber nicht. Denn Bewegung, gerade im Freien, ist (derzeit) ausdrücklich erlaubt. Bewegung ist auch unter Einhaltung aller Abstandsregeln möglich. Und medizinisch indiziert. Robert Fritz weiß, wovon er redet, wenn er sagt: "Wenn nicht jetzt damit starten, wann dann?" Und er erklärt, warum: "Der Aufenthalt im Freien wäre gerade im Moment so wichtig und sinnvoll – für Psyche und Physis. Wie oft habe ich in den letzten Jahren von meinen PatientInnen gehört, dass sie aufgrund der hohen beruflichen Belastung keine Zeit haben, zumindest 150 Minuten Bewegung pro Woche zu absolvieren – das wäre das Mindestmaß, das uns die WHO empfiehlt und das sich mit einem täglichen zügigen Gehen über 30 Minuten leicht erreichen lassen würde."

Einsteigern und Einsteigerinnen empfiehlt er genau das Gleiche wie Jen A. Miller: "Jede und jeder, der jetzt endlich mit regelmäßiger Bewegung anfangen möchte, sollte die freie Zeit nutzen und mit 30 Minuten gehen täglich beginnen. Auch lockeres Traben ist erlaubt und sinnvoll, aber nur alleine oder mit den Menschen, mit denen man im selben Haushalt lebt und daher sowieso andauernd auf engem Raum beisammen ist."

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Dass das alles trotzdem nicht "The real thing" ist, muss man niemandem erklären. Und dass viele, nicht nur Läuferinnen und Läufer, in ein großes schwarze Loch gefallen sind, als alle Sportevents des Frühjahrs abgesagt wurden, ist klar. Insbesondere weil alles andere als klar ist, wie es dann im Spätsommer oder Herbst weitergehen wird. Nicht nur was Bewerbe angeht.

Wenn ich, wie gerade jetzt, schon einen Monat lang nicht regelmäßig schwimmen konnte und mittelfristig keine Änderung in Sicht ist, weiß ich nicht, ob ich mir im Sommer dann einen Triathlon – egal welche Distanz – zutraue. Über Frühjahrsevents redet ja sowieso niemand mehr – auch wenn Tri-Superstar Daniela Ryf da auf Instagram noch so fröhlich herumblödelt.

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Aber aufgeben, die Flinte ins Korn schmeißen ist keine Option. Eben weil es da um weit mehr als den Abbau von Kraft und Ausdauer geht: Es geht um den Kopf. Und das Herz.

Als ich vorige Woche den Donaukanal hinaufrannte (mit ein bisserl Mitdenken geht das ohne Regelbruch sogar hier und bei Kaiserwetter), stolperte ich über einen jungen Mann, der hier gegen die Wand Tennis spielte. Nicht einfach so, sondern mit auf den Boden gesprayten Linien – und System. An der Seitenlinie stand sein Coach. Vermutlich sein Vater.

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Und im Weiterlaufen wurde mir dann klar: Der Spieler tat hier weit mehr, als seinen Aufschlag und seine Rückhand zu perfektionieren – er trainierte das Nichtaufgeben. Holte aus einer (weil alle Sportplätze zu sind) auf den ersten Blick hoffungslosen Situation doch noch etwas heraus. Und zwar ohne Regeln zu brechen (die Grundlinien-Sprayerei an einem ohnehin mit Graffitis zugepflasterten Ort halte ich für vernachlässigbar). Weil er nach vorne schaut: Irgendwann wird es weitergehen. Wieder gehen. Daran zu glauben, dafür zu arbeiten ist alles, was zählt.

Ich habe (bis auf die Frage, ob ich Fotos machen und verwenden darf) weder mit dem Spieler noch seinem Trainer geplaudert. Kenne beide nicht. Aber trotzdem glaube ich, verstanden zu haben. Und sogar wenn nicht, ist das egal. Denn es geht darum, was man aus solchen Momenten macht und mitnimmt: Aufgeben ist keine Option.

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Ganz einfach ist das natürlich nicht. Gerade weil sich die meisten Läuferinnen und Läufer Ziele gesteckt haben. Und die sind jetzt weg. Mein Lauf- und Trainingsbuddy Stefan Langer hatte Glück: Im Februar lief der Wiener Anwalt in Sevilla seinen Frühjahrsmarathon. 14.000 Teilnehmer waren dabei. Alle liefen die Volldistanz. Traumwetter. Traumstimmung. Das Bild hier entstand keine zwei Kilometer vor dem Ziel: Da beißt und kämpft jeder – und das ist gut so.

Stefan könnte jetzt natürlich sagen: "Hej, ich hab mein erstes Jahresziel erreicht. Wenn die anderen ausfallen? So what! Ich setze ich mich auf die Couch, spiele mit der Finishermedaille und bin trotzdem stolz. Mission accomplished. Man reiche mir Schokolade." Nur: So ticken Läufer halt nicht. Wir brauchen Ziele.

Foto: Langer

Was Stefan gerade "rettet", ist das, was er "meine Marschtabelle" nennt. Die stellt er sich seit 2015 bei der Planung der nächsten Laufsaison zusammen: Wie viele und welche Events möchte ich laufen? Wie viele Kilometer sind das in etwa – und wie viele Trainingskilometer brauche ich dafür in etwa in den Beinen?

Die Summe dividiert er dann durch 365 (oder 366) – für heuer ergibt das bei Stefan einen Tagesschnitt von acht Kilometern. Theoretisch. Tatsächlich werden diese Kilometer dann natürlich umverteilt.

Und obwohl Stefan am liebsten in Gesellschaft rennt (er ist einer der Koordinatoren der derzeit selbstverständlich nicht stattfindenden "Weekly Long Runs"), hat er sich angepasst: "Ich würde dich halt bitten, dass du unterbringst, dass ich die rechtlichen Beschränkungen aus Überzeugung weit übererfülle und nur mehr sozialkontaktfrei laufe (ganz in der Früh, mit dem Auto direkt zu einsamen Strecken wie in der Lobau)." Und wenn man dann pro Kilometer oft nicht einmal einen einzigen anderen Läufer, Mountainbiker oder Spaziergänger sehe, sei das dann eher "Social Isolation" als "Social Distancing".

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Aber eines ist unbestritten: Der Mensch braucht Erfolgserlebnisse. Und auch wenn jeder von uns weiß, dass es sportlich ziemlich Blunzen ist, ob wir 5, 10, 21 oder 42 Kilometer alleine in der Pampa oder zwischen 20.000 anderen abspulen, sind Finishermedaillen und -shirts eben doch Belohnungen, die viele motivieren und stolz machen. Sogar dann, wenn die Medaillen daheim nicht prominent an Haken hängen, sondern in Schuhkartons verstauben: Allein beim gelegentlich Umstellen der Kisten kann man leise lächelnd – und schon auch ein bisserl stolz sein. Jetzt aber bleiben die Kisten leer.

Oder aber nicht. Denn derzeit schießen überall auf der Welt virtuelle Läufe aus dem Boden. Genauer: dem Netz. Und bei manchen gibt es sogar "echte" Medaillen – etwa hier, beim "Virtuellen Inca Trail" – quer durch Peru. Machu Piccu inklusive. "We send medals worldwide!", versprechen die Veranstalter.

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Eine andere Form der Belohnung hat sich Nils Lauterbach einfallen lassen. Im Hauptjob Student (Geoinformatik), fertigt der 24-Jährige aus Trier (ganz links im Bild) seit 2018 mit seinem Label "Memory Line" personalisierte Lauf-Wandbilder an: Lauterbach druckt individuelle oder Wettkampf-GPS-Lauftrackingrouten in High-End-Qualität auf Satellitenbilder, hübsche Hintergründe oder individuelle Fotos und verschickt sie. Weil Erinnerungen wichtig sind.

Weil die Corona-bedingten Wettkampfabsagen viele Leute aber um genau diese Erinnerungen bringen, kamen Lauterbach und seine Freunde Martin Kasel vom "Team Moselrunner" (Mitte) und der Profi-Tri- und -Duathlet Jens Roth (unter anderem fünffacher deutscher Meister im Cross-Triathlon) auf eine andere Idee: die "Corona-Medaille".

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Die "Corona-Medaille" ist genau das, was ihr Name sagt, erklärt Lauterbach: "Eine Erinnerung und eine Belohnung dafür, dass man auch in dieser Zeit seine Ziele weiter verfolgt hat – und nicht aufgegeben hat."

Die Plaketten sind gerade in Produktion. Man kann sie mit unterschiedlichen Bändern ordern – vom 5K-Lauf bis zum Marathon. Aufdruck und Gestaltung sind aber immer gleich: "Corona Marathon, Frühjahr 2020 – Nothing can stop us". Und zehn Prozent des Kaufpreises gehen an den Verein Nestwärme, eine Initiative, die Familien mit schwerkranken oder behinderten Kindern unterstützt.

Reich, betont Lauterbach, würden er und seine Freunde mit der Corona-Medaille aber auch aus einem anderen Grund nicht: Sie ist auf 2.000 Stück limitiert – und rund 1.000 sind schon weg.

Eine zweite Auflage will der junge Mann aus Trier aber lieber nicht in Auftrag geben müssen: "Wir haben 'Frühjahr 2020' auf die Medaille geschrieben. Und wir hoffen inständig, dass es keine 'Sommer 2020'-Ausgabe geben wird." (Tom Rottenberg, 1.4.2020)

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