Wer kann in die richtige Zukunft blicken?

Wie geht es weiter? Diese Frage stellen sich zurzeit viele Personen. Selbsternannte Trendforscher, Untergangspropheten oder Berufsoptimisten meinen, in die Zukunft blicken zu können. Aber Antworten über die Zukunft gibt leider nur die Zukunft

Führungskräfte sind allerdings gefordert, jetzt Entscheidungen über Liquiditätsfragen, Beschäftigungsmodelle, Personalabbau, Kostensenkungen oder Redimensionierungen zu treffen. Sie müssen zudem ständig kommunizieren, denn in unsichereren Zeiten ist der Hunger nach Orientierung groß.

Historisch betrachtet zeigen auch große Katastrophen, dass es irgendwann wieder bergauf gehen wird. Die Frage ist nur, wie lange die Krise andauert. Im Moment fehlen Informationen, um sichere Prognosen abzugeben. Der Verlauf der Krise kann einer V-Form entsprechen. Nach einem steilen Abfall erfolgt rasch wieder ein starker Anstieg. Sie kann aber auch einer U-Form gleichen. Nach einem dramatischen Absturz kommt es zu einer langen Phase der Stagnation, bis wieder ein Aufwärtstrend beobachtbar wird. Was können Führungskräfte in Unternehmen nun tun?

Effektive und paradoxe Verhaltensweisen

In einem Forschungsprojekt des Instituts für Leadership & Change Management über das Krisenmanagement von Führungskräften während der Finanzkrise konnten wir zum Teil effektive, aber paradoxe Verhaltensweisen identifizieren. Denn Führungskräfte sind auch während großer Krisen gefordert, eine Balance aus kurzfristiger Überlebenssicherung und langfristiger Neuausrichtung zu finden. Dieses ambidextre – beidhändige – Führungsverhalten im Umgang mit Gefahren und Chancen eröffnet Flexibilitätspotenzial. Sie verlieren dadurch weder Überlebenssicherung noch Neuausrichtung aus dem Blick. Damit gelingt es ihnen, den Pfad von der dramatischen Gegenwart in eine ruhigere Zukunft zu legen. Sie vermitteln auch kommunikativ Zuversicht.

Denken in Szenarien

Drei Denkstrategien können den Blick für Gegenwart und Zukunft öffnen. Erstens hilft das Denken in Szenarien, um eine nuancierte Vorstellung über potenzielle Verlaufsvarianten der Krise zu erlangen. Wie wird das Unternehmen oder der eigene Bereich im positiven, realistischen bzw. negativen Fall getroffen? Wie wird dann jeweils die Grundlage der Geschäftstätigkeit aussehen? Welche Konsequenzen und mögliche Maßnahmen sind mit unterschiedlichen Szenarien verbunden, und welche Indikatoren könnten zeigen, welches Szenario wahrscheinlicher wird?

Zweitens hilft es, sich trotz des enormen Entscheidungsdrucks Zeit zum reflexiven Denken zu nehmen. Im Moment brennen großflächig operative Themen, und Führungskräfte sind primär mit Feuerlöschen beschäftigt. Die Gefahr liegt darin, dass fundamentale Aspekte übersehen werden. Da Erfolgspraktiken der Vergangenheit oft nicht mehr greifen, kann die Krise durch unpassende Handlungen noch verschlimmert werden. Bedrohungen werden möglicherweise nicht erkannt und effektivere Lösungen übersehen.

Deshalb ist eine rollierende Lagebeurteilung aus einer Helikopterperspektive wichtig. Welche Informationen liegen vor, und welche unterschiedlichen Bilder lassen sich daraus ableiten? Welche Handlungspraktiken aus der Vergangenheit passen, und welche müssen schnellstmöglich geändert werden? Wie werden Mitarbeiter, Kunden, Lieferanten oder Netzwerkpartner mit der Krise umgehen, und was erwarten sie? Welche anderen und unkonventionellen Lösungsalternativen können zusätzlich generiert werden?

Drittens hilft Führungskräften ein Denken in Gefahren und Chancen. Im Moment dominiert der Blick in den Abgrund der Wirtschaftskrise. Unbestritten muss gegenwärtig auch viel Aufmerksamkeit in die Krisenbewältigung fließen, da ohne Liquidität das Überleben des Unternehmens schwierig wird.

Der Boden für Neues

Allerdings können schon jetzt die Grundlagen für einen Neubeginn gelegt werden. Denn wenn alte Ordnungen kollabieren, entsteht Platz für Neuerungen; innerhalb der Organisation und im Wirtschaftssystem insgesamt. Nach der Krise werden jene Unternehmen gewinnen, die nicht nur die Pflicht erfüllen, nämlich das finanzielle Überleben zu sichern, sondern auch Ideen für die Kür generieren, um mit optimierten Geschäftsprozessen, neuen Produkten oder innovativen Geschäftsmodellen zu reüssieren. Wer als Phönix aus der Asche steigen möchte, der tut gut daran, jetzt die Weichen in Richtung Zukunft zu stellen.

Mit diesen drei Denkstrategien halten ambidextre Führungskräfte den Möglichkeitsraum trotz Krisenbewältigung offen, um Bedrohungen einzudämmen und gleichzeitig neue Chancen zu ergreifen. Denn wenn alle auf das gegenwärtige Überleben blicken, sind jene im Vorteil, die auch Aufmerksamkeit in die Zukunft investiert haben. Sie können mit neuer Kraft und innovativen Ideen Wettbewerbsvorteile in jener Zeit gewinnen, in der die Konkurrenz erst beginnt, über die Zukunft nachzudenken. (Wolfgang Güttel, 31.3.2020)