Das Coronavirus zwingt die Regierung, von bekannten Mantras abzuweichen. Viele wichtige Themen finden keinen Platz. Im Gastkommentar mahnt Sprachsoziologin und Diskursforscherin Ruth Wodak, dass Meinungsvielfalt, Dialog und Auseinandersetzung auch in der Corona-Krise für eine liberale Demokratie wichtig seien.

Kaum hatten wir uns an den Kommunikationsstil der türkis-grünen Koalition gewöhnt, sind wir aufgrund der Corona-Krise neuen Diskursstrategien ausgesetzt. Jetzt können die Minister und Ministerinnen wie auch der Kanzler und Vizekanzler nicht mehr auf das Regierungsprogramm verweisen, in dem alles – so wurde mantraartig auf jede Frage, egal zu welchem Thema, reagiert – festgeschrieben stünde.

Denn als Zuschauende und Zuhörende konnte man bald den genauen Wortlaut vorhersagen und die Wiederholung der Phrasen des neuen "Regierungssprechs" abzählen. Der Frame "Grenzen und Klima schützen" legitimierte alle Maßnahmen, Konflikte wurden schnell ausgeblendet, wie etwa der Umgang mit den katastrophalen Zuständen auf den griechischen Inseln. Das stand eben nicht im Regierungsprogramm.

Natürlich nicht! Denn Unvorhergesehenes kann nicht in einem Regierungsprogramm stehen. Auch die Corona-Krise war nicht vorgesehen. Jetzt geht es darum, zu handeln, alle Menschen zu schützen, die in Österreich leben – unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft. Dementsprechend wurde der politische Diskurs auf Anweisung der Spindoktoren rasch geändert, sowohl was die Inszenierung als auch die Inhalte betrifft. Der Medienlogik folgend, änderte sich auch die Berichterstattung zugunsten der alles beherrschenden "Corona-Krise".

Die Krise dominiert den politischen Diskurs: Sebastian Kurz und Werner Kogler bei einer der vielen Corona-Pressekonferenzen.
Foto: APA / Georg Hochmuth

Neues Mantra

Zunächst erfreut die neue Anerkennung wissenschaftlicher Expertise. Keine Rede mehr davon, dass "man die Wissenschaft nicht überspannen soll – die kann und soll sich auch nicht überall einmischen", wie Wissenschaftsminister Heinz Faßmann noch im Jänner meinte, angesprochen auf die breite wissenschaftliche Kritik zu den vorgesehenen Deutschförderklassen. Virologen, Infektiologen, Psychologen, Therapeuten, Pädagogen, Philosophen, Ökonomen, Zukunftsforscher sind gefragt. Außerdem Hilfsorganisationen und NGOs wie das Rote Kreuz, die Armutskonferenz und die Frauenhäuser. Fachbegriffe wie "Social Distancing" und "Herdenimmunität" beherrschen den Diskurs, differenzierte Argumente und Meinungsvielfalt lösen inhaltsleere Phrasen ab. Simple Antworten gibt es nicht, die vielfältige Vernetzung unserer Gesellschaften wird deutlich.

Weiter erleben wir die Wiederkehr totgeglaubter Begriffe und Institutionen, wie "Solidarität", "Helden/Heldinnen der Arbeit" und "Sozialpartnerschaft", auf höchster Regierungsebene. Aus dem öffentlichen Diskurs längst hinausgedrängte Organisationen wie Arbeiterkammer und Gewerkschaft setzen sich lautstark für die Rechte der Arbeitnehmer ein, ein "Corona-Kurzarbeitspaket" wird verabschiedet. Kreisky’sche Überzeugungen finden Widerhall, wie der nur geringfügig vom Kanzler und Finanzminister umformulierte Satz, dass Kreisky "ein paar Milliarden mehr Schulden weniger schlaflose Nächte bereiten als ein paar Hunderttausend Arbeitslose mehr". Die Phrase "Koste es, was es wolle", so der ehemalige EZB-Präsident Mario Draghi während der Eurokrise im Juni 2015, wird zum neuen Mantra. Selbst die Forderungen der Opposition (und der WHO) werden aufgegriffen ("testen, testen, testen"). Weist dieser Framewechsel etwa auf ein Ende neoliberaler Einstellungen hin?

"Banaler" Nationalismus

Die Inszenierung der Politik repräsentiert das Ungleichgewicht der beiden Regierungsparteien. Meist im Trio betreten Politiker und Politikerinnen fast täglich die Bühne. Neue Maßnahmen und Zahlen werden verkündet. Niemand kann daher daran zweifeln, wer letztlich als "Retter der Nation" gelten wird, ein weiser fürsorglicher "Vater", so der Linguist George Lakoff mit seiner Metapher der "Nation als Familie", der sich um alle Österreicher und Österreicherinnen kümmert und Regeln vorgibt. Auf Angst und Verzicht folgen Hoffnung und Rettung. Insgesamt wirkt der oft zitierte "Schulterschluss" beruhigend. Ein "Schutzschirm" wird aufgespannt, der Österreich vor dem Verderben bewahren möge. Jetzt ist nicht, so die neue Message-Control, die Zeit für Zweifel, Kritik oder Konflikt. Da Gesundheitspolitik vor allem nationalstaatlich verhandelt wird, wurden schnell die Grenzen geschlossen. Obwohl sich weder das Virus noch das Klima an Grenzen halten. "I am from Austria", ertönt von der Polizei, rot-weiß-rote Fähnchen wehen an manchen Fenstern. Eine Rückkehr des sogenannten "banalen", alltäglichen Nationalismus.

Suche nach Sündenböcken

Allerorts kursieren martialische Metaphern. So verkündet der französische Präsident Emmanuel Macron, dass wir uns "im Krieg" gegen das Virus befinden. Sündenböcke werden gesucht: US-Präsident Donald Trump spricht vom "Chinese Virus", der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán gibt "illegalen Migranten" und George Soros (also einer "jüdischen Weltverschwörung") die Schuld. Die restriktiven Maßnahmen dienen dem Schutz von "(Hoch-)Risikogruppen" und vor allem alten Menschen. Schon vernimmt man vereinzelt utilitaristische Argumente, ob sich denn allein aus diesem Grund all diese Maßnahmen lohnten. Kommt ein neuer "Generationenkonflikt", fragen manche. Diese ethisch verwerfliche Diskussion bleibt uns hoffentlich erspart!

Viele wichtige Themen finden keinen Platz. Wird es noch ein Budget geben, um nach der Corona-Krise die noch bedrohlichere Klimakrise zu bewältigen? Warum hören und lesen wir nichts über die Eurofighter, den Casinos-Skandal und den eben eingesetzten Untersuchungsausschuss? Gibt es einen neuen EU-Türkei-Deal? Was sagt denn die EU-Kommission oder die Europäische Volkspartei, zu der die ÖVP gehört, zu den diktatorischen Gelüsten Orbáns? Die Liste ließe sich lange fortsetzen. Meinungs- und Themenvielfalt, Dialog und Auseinandersetzung bleiben für eine liberale Demokratie wichtig, denn sonst fallen wir unvorbereitet in die nächsten – vorhersehbaren – Krisen. Manches davon steht sogar im Regierungsprogramm. (Ruth Wodak, 1.4.2020)