Es ist schon bemerkenswert, dass in der Krise plötzlich auch die brutalsten Wirtschaftsliberalen die Notwendigkeit des Sozialstaates entdecken und sich sogar Gernot Blümel schon fast wie Kreisky anhört, wenn er betont, Massenarbeitslosigkeit auch mit Schulden verhindern zu wollen "koste es was es wolle".

Zumindest deklinatorisch gilt in der Krise plötzlich das Gemeinwesen wieder was, auch wenn man dieses primär als Volksgemeinschaft versteht und Kurz als Sprecher der männlichen Regierungsdreifaltigkeit in Krisenzeiten regelmäßig ausschließlich „Österreicherinnen und Österreicher“ adressiert.

Jene Partei, die jahrelang alles daran gesetzt hat, die Sozialpartnerschaft zu zerstören braucht nun plötzlich die Sozialpartner und holt diese an Bord. Auch wenn diese in verteilten Rollen agieren und die Wirtschaftskammer zum Abwickler für Härtefonds für Familien- und Kleinstbetriebe wird, während die Arbeiterkammer und Gewerkschaften nur darum kämpfen können möglichst viele der geplanten Kündigungen in Kurzarbeit verwandeln zu können, so zeigt sich auch für die ArbeitnehmerInnen in der Krise mehr denn je, wie wertvoll Gewerkschaften und Betriebsräte sein können. Wo es aktive Betriebsräte gibt, gelingt es teilweise zumindest solche Kurzarbeitsregelungen durchzusetzen. Wo es sie nicht gibt, wurden in den letzten Wochen zehntausende Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu einvernehmlichen Kündigungen überredet.

Trotz neuer Kurzarbeitsregelung wurden schon in der ersten Woche nach Einführung der neuen Gesetze zur Bekämpfung der Corona-Pandemie fast 100.000 Menschen gekündigt. Ende März waren 504.345 Personen beim Arbeitsmarktservice AMS arbeitslos vorgemerkt, ein historischer Höchststand seit 1946. Österreich schlittert, wie wohl die meisten Staaten Europas aufgrund der Pandemie und der damit verbundenen massiven Einschränkungen des Wirtschaftslebens in die größte Wirtschaftskrise seit dem zweiten Weltkrieg. Dass diese selbst einen türkisen Wirtschaftsminister wie einen Sozialdemokraten klingen lässt und die Bundesregierung nun auch real Gelder für die Betroffenen bereitstellt, ist definitiv das Gebot der Stunde.

Wer zahlt?

Damit ist es aber nicht getan. Es gilt nun kritisch zu beobachten, wer mit den Milliarden gerettet wird: Nur die großen Firmen oder auch die kleinen Selbstständigen? Wird René Benko, dessen Vermögen sich auf etwa fünf Milliarden Euro beläuft, die geforderten Millionen bekommen und die Kleinstunternehmer mit tausend Euro abgespeist oder nicht? Mit anderen Worten: Wird die Krise zur Umverteilung von unten nach oben genutzt oder sollen die Reichen zahlen?

Österreich ist ein Land sehr vieler Einpersonenunternehmen (EPUs) und Kleinunternehmer, die teilweise besonders stark von den Einschränkungen des öffentlichen Lebens betroffen sind: Wirtshäuser, Cafés, kleine Geschäfte, die alle geschlossen werden. EPUs, die Aufträge verlieren, Künstlerinnen und Künstler, die schlicht nicht mehr auftreten können. Wie sollen diese ihre Mieten und ihren Lebensunterhalt zahlen, wenn diese Situation länger andauern sollte?

Und wie werden all die nun durch Schulden bezahlten Maßnahmen dann nach der akuten Krise finanziert? Durch Einsparungen bei Sozialausgaben, öffentlicher Infrastruktur oder Massensteuern oder wagt man es doch die Vermögen der Reichen anzutasten? Letzteres wird wohl kaum von selbst geschehen und braucht eine kritische Öffentlichkeit, einen Diskurs über die Finanzierung der Maßnahmen. Wann sollen wir über neue Steuern auf Großbesitz, Erbe und Finanztransaktionen nachdenken, wenn nicht jetzt?

Die Einsicht, dass nicht alles dem Markt überlassen werden kann, kommt spät und ist richtig. Ich wage zu behaupten, dass es nach dieser Krise kein Zurück zu den vorherigen neoliberalen Modellen geben wird. Diese haben sich als viel zu krisenanfällig erwiesen. Aber in welche Richtung das gehen wird, ist noch offen.

Globale Krise

Bei der Corona-Krise handelt es sich um eine globale Krise, die durch den Mangel an Solidarität noch verschärft wird. Die Flüchtlinge in den beengten Lagern auf den griechischen Inseln oder die Vertriebenen in den Zeltlagern in Syrien sind davon genauso betroffen, wie wir und mit Staatsgrenzen lässt sich ein Virus eben nicht so gut aufhalten.
Globale Herausforderungen, wie die Klima-Krise oder eben eine Pandemie lassen sich nicht mit nationalstaatlichen Alleingängen bewältigen, sondern brauchen europäische und internationale Solidarität. Und wenn die Bedingungen in Flüchtlingslagern dermaßen katastrophal werden, dass dort die Menschen sterben, dann geht uns das hier auch etwas an. Spätestens dann, wenn dort Viren unkontrolliert weiter verbreitet werden, die wir hier vielleicht mit den aktuellen Beschränkungen noch irgendwie unter Kontrolle bekommen.

Wir sitzen tatsächlich alle in einem Boot was die mögliche Infektion mit Covid-19 betrifft, allerdings bedeutet dies für Menschen innerhalb Österreichs und global verschiedenes. Es ist etwas anderes in einer schönen großen Villa mit Garten "zu Hause" zu bleiben oder in einer 50- Quadratmeter-Wohnung ohne Balkon und es ist noch einmal etwas anders zu versuchen sich in einem Flüchtlings- oder Vertriebenenlager in Syrien, der Türkei oder Griechenland, wo es selbst an Seife und sauberem Wasser mangelt, zu versuchen eine Infektion zu verhindern.

In solchen Lagern, wie hier im Washukanni Camp bei Hasaka, leben in Syrien hunderttausende Menschen.
Thomas Schmidinger

Corona in Syrien

Seit Sonntag gibt es die erste bestätigte Covid-19-Tote in Syrien. Das syrische Gesundheitsministerium teilte am 29. März mit, dass eine Frau, nachdem sie zur Notfallbehandlung ins Krankenhaus eingeliefert worden war, verstarb. Die syrische Regierung erklärte zudem, dass die bestätigten Fälle von bisher fünf auf neun gestiegen wären. Mediziner und Augenzeugen vor Ort berichten allerdings seit Tagen, dass es noch viel mehr Fälle gibt.

Während das Gesundheitssystem im vom Regime gehaltenen Teil des Landes allerdings noch vergleichsweise gut funktioniert und die offizielle Mitgliedsorganisation des IKRK, der Syrische Rote Halbmond, gute Voraussetzungen hat, das Regierungsgebiet zu versorgen, herrschen in den Teilen Syriens, die nicht von der international anerkannten Regierung kontrolliert werden, wesentlich gravierendere Probleme.

So ist die von Kurdinnen und Kurden und ihren Verbündeten kontrollierte Region in Nord - und Ostsyrien derzeit noch isolierter als sonst. Der einzige Grenzübergang in Semalka/Faysh Habur, der die von den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) kontrollierte selbstverwaltete Region mit der Außenwelt verbindet, ist seit drei Wochen weitgehend geschlossen.  Seit 23. März dürfen nur noch Lebensmittelhandel und Apotheken öffnen. Die Fortbewegung zwischen den Städten ist untersagt.

Bisher gibt es in Nord- und Ostsyrien noch keinen bestätigten Fall einer Infektion mit Covid-19. Lediglich ein Soldat des Regimes wurde in Qamishli positiv getestet. Dies dürfte allerdings an den fehlenden Testmethoden liegen. Bisherige Testmethoden für Covid-19 benötigen einen so genannten Thermocycler. Bis Oktober 2020 gab es genau ein solches Gerät in Nord- und Ostsyrien, nämlich in Serê Kaniyê, also jener Stadt, die im Oktober 2019 von der Türkei und protürkischen Milizen besetzt wurde. Damals wurde nicht nur die Bevölkerung vertrieben, sondern fiel auch der Thermocycler in türkische Hände.

Für die Vertriebenen von damals, die nun in Zeltlagern oder überfüllten Klassenzimmern leben, hätte eine Seuche ebenso fatale Folgen, wie für jene 3,5 Millionen Menschen die im jihadistisch bererrschten Idlib in der Falle sitzen.

Grundrechte Pressefreiheit und Demokratie stehen auf dem Spiel

Aber ob wir nun vom Nahen Osten, Indien, den USA oder Europa sprechen, überall wird diese Pandemie nachhaltige Folgen haben. Auch im liberalen und demokratischen Europa steht viel auf dem Spiel.

Sowohl die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen, als auch die staatlichen Grundrechtseinschränkungen stellen eine grundlegende Infragestellung des liberalen Subjekts - des Individuums – dar. Dies wird nachhaltige Folgen über die unmittelbare Krise hinaus haben.

In Ungarn nützt Orbán das Virus seine „illiberale Demokratie“ zu einer offenen Diktatur zu verwandeln. Dort wurde am Montag das Parlament auf unbestimmte Zeit ausgeschalten und auf die Vertreitung von "Fake News" stehen Haftstrafen. Die EU droht vor lauter nationaler Alleingänge zu zerbröseln. Nicht nur, dass Italien mit der Situation weitgehend allein gelassen wurde, Tschechien und Polen kassierten sogar noch kurzzeitig für Italien bestimmte Masken und Beatmungsgeräte ein. In Italien helfen nun Ärzte aus Kuba, China und Somalia. Österreich fliegt nicht einmal italienische Patientinnen und Patienten ein.

Die Gefahr besteht, dass aus der Corona-Krise nicht nur eine Wirtschaftskrise erwächst, sondern auch eine ernsthafte Gefahr für die Demokratie, die Meinungs- und Pressefreiheit und das europäische Projekt.

Ungarn ist dabei nur die Spitze des Eisbergs. In Österreich traf sich Kanzler Kurz in den Tagen vor den ersten Ausgangsbeschränkungen mehrmals mit allen Chefredakteuren der wichtigsten österreichischen Medien, um diese auf Linie zu bringen. Dass einer davon ausscherte und bei diesen Gesprächen erwähnte Pläne der Regierung ausplauderte, führt am 13. März zu den intensiven Warnungen von Nehammer und Kurz vor angeblichen "Fake News", die sich in den folgenden Tagen allerdings überwiegend als richtig herausstellen sollten. Kritischer wurde die Medienberichterstattung bis auf wenige löbliche Ausnahmen danach allerdings nicht. Zu sehr ist seither Burgfriedenspolitik angesagt. Selbst die Vorwürfe der Rechtwidrigkeit der derzeit gültigen Verordnung des Gesundheitsminister, wie sie von Alfred J. Noll im STANDARD geäußert wurden, wurden nirgendwo aufgegriffen.

Dabei gälte es gerade jetzt neben den konkreten Maßnahmen auch über Grundsätzliches nachzudenken und offen zu diskutieren. Schließlich macht gerade das Sterben in Italien, Frankreich und Spanien deutlich, dass die Gesundheitssysteme dieser Staaten kaputtgespart wurden. Dort gibt es mittlerweile teilweise nur noch weniger als halb so viele Intensivbetten, wie in Österreich oder Deutschland. In Frankreich hatten noch letztes Jahr Proteste von Krankenhausangestellten unter anderem genau darauf hingewiesen. Das Virus zeigt hier in brutaler Weise auf, welche Lücken der Neoliberalismus in die Gesundheitssysteme gerissen hat.

Wien ohne Kondensstreifen: Schaffen wir es auch fürs Klima?
Thomas Schmidinger

Was kommt nach dem Neoliberalismus?

Mehr denn je wird klar, dass der Neoliberalismus versagt hat, der weder ökologisch tragfähig ist, noch sich in einer Krisensituation bewährt. Die Systeme nach dem Neoliberalismus werden kollektiver sein. Ob diese sich eher solidarisch in Richtung sozialökologische regionale Ansätze entwickeln oder in Richtung einer autoritären nationalistischen biopolitischen Kommandowirtschaft, wird sich die nächsten Monate entscheiden. Ersteres wäre keine Neuauflage des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates und letzteres auch nicht einfach nur eine Wiederholung des Faschismus.

Wenn uns die aktuelle Krise schon klar gemacht hat, wie verwundbar die globale neoliberale Just-in-time-Ökonomie ist, wäre das auch eine Chance darüber nachzudenken ob wichtige Medikamente nicht auch in Europa hergestellt werden sollten und ob wir nicht auf ökologisch nachhaltigere regionale Wirtschaftskreisläufe setzen. Wenn uns der Umgang mit den Ausnahmezuständen schon soziale Differenzen deutlicher vor Augen führt, wäre es angebracht über soziale Verteilungsgerechtigkeit global wie regional nachzudenken.

Welchen Weg wir dabei einschlagen, werden aber die nächsten Monate entschieden und dafür braucht es Möglichkeiten des politischen Engagements und der offenen politischen Debatte. Auch dafür gilt es nun zu kämpfen. (Thomas Schmidinger, 2.4.2020)

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