Wir schreiben das Jahr 1988, es gibt keine Nachos mit Käsedip und kein Dolby-Digital-Soundsystem. Trotzdem sitzt ein Wiener Teenager gebannt in seinem Kinosessel. Der junge Mann heißt Herbert Nitsch, der Film Im Rausch der Tiefe. Das Unterwasserepos des französischen Regisseurs Luc Besson ist an die Biografien der beiden Freitaucher Jacques Mayol und Enzo Maiorca angelehnt. Bis sich der Vorhang lüftet, kennt Nitsch weder den einen noch den anderen, von Freitauchen hat er erst recht keine Ahnung. Jahre später bricht derselbe Mann einen Weltrekord nach dem anderen.

Der Trailer zum Film.
VHS Trailer Park

"Ich fand die Geschichte beeindruckend", sagt Nitsch mehr als zwanzig Jahre später. Als Inspiration hätte Le Grand Bleu, wie der Film in der französischen Originalversion heißt, aber nicht gedient. "Ich hätte nicht gedacht, dass man tatsächlich so lange die Luft anhalten kann. Für mich war das eine reine Fiktion." Rund zehn Jahre später fand Nitsch eher zufällig zum Freitauchen. Seine Ausrüstung ging bei der Anreise zu einem Tauchurlaub verloren, in der Folge entdeckte er den Reiz des Apnoetauchens. Zwischen 2001 und 2010 stellte er 32 Weltrekorde auf, die Medien hießen ihn den "Deepest Man on Earth".

Als Im Rausch der Tiefe im Mai 1988 beim Filmfestival von Cannes als Eröffnungsfilm präsentiert wird, marschieren die bis dahin unbekannten Hauptdarsteller Jean Reno und Jean-Marc Barr gemeinsam mit Luc Besson im blauen Smoking die Treppe hinauf. Vierte im Bunde ist die Schauspielerin Rosanna Arquette. Was ein triumphaler Abend hätte werden sollen, endet in einem beispiellosen Desaster. Einige Zuseher verlassen den Saal, andere pfeifen nach dem Abspann. Die Kritiker vernichten den Film, er sei ein Sinnbild für die Krise des französischen Kinos. Der damals 28-jährige Besson muss seine sündteure Produktion verteidigen, es riecht nach schnellem Karriereende – wäre da nicht das zahlende Publikum. Der Film ging an den Kinokassen durch die Decke und gilt mit über neun Millionen Besuchern als eine der erfolgreichsten Produktionen der französischen Kinogeschichte.

Märchenhaft

Der mittlerweile 71-jährige französische Schauspieler Jean Reno stellte in "Le Grand Bleu" den Italiener Enzo Maiorca dar.
Foto: imago stock&people

Vor allem das junge Publikum erlag der märchenhaften Erzählung. Auf der einen Seite der schweigsame Franzose Jacques, auf der anderen Seite der extrovertierte Italiener Enzo, beide vereint durch die Faszination für die unendliche Stille der Tiefe. Der meditative Charakter des Streifens wird durch den von Synthesizern getragenen Soundtrack untermauert. "Die Musik von Eric Serra ist Weltklasse", sagt Nitsch. Für den STANDARD hat er sich die 136 Minuten noch einmal angesehen und dabei die Boxen voll aufgedreht: "Ich hoffe, den Nachbarn hat es gefallen." Der Film böte aus heutiger Sicht kaum Action, sei aber noch immer spannend und das Referenzwerk für Freitaucher: "Das ist unser Kultfilm." In der Tat hat Im Rausch der Tiefe eine bis dahin unbekannte Sportart über Nacht berühmt gemacht.

Aber wie realistisch sind die dargestellten Tauchszenen? "Das Drumherum kommt der Realität nahe", sagt Nitsch. Die Szenen unter Wasser seien hingegen nicht immer nachvollziehbar: "Kein Freitaucher legt beim Abtauchen einen Zwischenstopp ein, um den zu Puls messen. Das mag dramaturgisch funktionieren, entspricht aber nicht dem gängigen Prozedere." Und die Darstellung der Charaktere? "Ich kannte Enzo, er war ganz anders, als er im Film präsentiert wird." Maiorca selbst sah es ähnlich. Der 2016 verstorbene Sizilianer setzte gerichtlich durch, dass der Film in Italien nicht aufgeführt werden durfte. Der Richter sah im dargestellten Charakter eine Verdichtung von Vorurteilen gegenüber Italienern. Zu viel der Arroganz, der Unverschämtheit, des Chauvinismus. Zu viel des Überlegenheitskomplexes. So erfolgte die Premiere in Italien 2002 mit 14 Jahren Verspätung.

Herbert Nitsch (rechts) bei einem Treffen mit dem im Jahr 2016 verstor-benen Sizilianer Enzo Maiorca.
Foto: Herbert Nitsch

Maiorca und Nitsch haben sich häufig ausgetauscht: "Ärzte haben ihm damals gesagt, es würde seine Organe zerquetschen, wenn er tiefer als 50 Meter taucht." Maiorca schlug die Warnungen in den Wind und hielt letztendlich bei einer Bestmarke von 101 Metern. Nitsch erreichte 2012 vor der griechischen Insel Santorin eine Tiefe von 253 Metern. Nach dem Tauchgang erlitt er allerdings eine schwere Dekompressionskrankheit, die zu Hirnschlägen führte. Die Jahre nach dem Unfall standen im Zeichen der Aufarbeitung und der Rehabilitation. Mittlerweile geht es dem 49-Jährigen bis auf einige Störungen in Sachen Körperkoordination wieder ganz gut. Kurz vor Ausbruch der Corona-Krise war Nitsch auf den Malediven: "Wir haben bei nächtlichen Tauchgängen Haie gefilmt, sind auf den letzten Drücker nach Österreich zurückgekommen."

Grenzwertig

Im Film geht die Rekordjagd für Enzo Maiorca nicht gut aus. Im echten Leben hat es viele Apnoetaucher getroffen. Muss man die Grenzen immer weiter nach unten verschieben? Oder ist es irgendwann genug? Nitsch sehnt sich nicht nach dem Tod: "Es gibt kein Limit, aber jeder sollte sich die Frage nach dem Warum stellen." (Philip Bauer, 2.4.2020)