Im Gastkommentar hofft der Soziologe, Kriminologe und Organisationsberater Wolfgang Gratz auf eine gute Aufarbeitung des Corona-Krisenmanagements.

Jeder Staat hat seine spezifische DNA des Katastrophen- und Krisenmanagements, also Grundhaltungen und Muster des Umgangs mit außergewöhnlichen Ereignissen. In Österreich ist man gewohnt, dass im Ernstfall kompetente Stäbe die Steuerung übernehmen und Behörden, NGOs und Zivilgesellschaft sowie die Wirtschaft miteinander gut zusammenarbeiten. Diese Stärken zeigen sich auch aktuell. Österreich liegt im internationalen Vergleich gemessen an der Zahl von Tests und der Entwicklung von registrierten Covid-19-Fällen und Todeszahlen ziemlich gut.

Die politische Steuerung und Krisenkommunikation ist jeweils vor allem von aktuellen Konstellationen geprägt. In deutlichem Gegensatz zur defizitären Kommunikation der Bundesregierung in der sogenannten Flüchtlingskrise betreibt die türkis-grüne Koalition ein weitgehend erfolgreiches politisches Krisenmanagement. Es bleibt allerdings abzuwarten, ob Pannen wie bei der Einführung von Maskenpflicht in Supermärkten die Ausnahme bleiben.

Gehört das Corona-Desaster in Tirol nur den Tirolern, im Bild Landesrat Bernhard Tilg (li.) und Landeshauptmann Günther Platter, oder hätte nicht der Bund früher energischer eingreifen können? Fragen wie diese gilt es zu klären.
Foto: APA / EXPA / Erich Spieß

Verdorbener Tag

In der österreichischen DNA ist allerdings auch enthalten, dass Krisen im Vorfeld unzureichend oder zu spät erkannt werden. Das zeigte sich bei Hypo Alpe Adria, dem Desaster der letzten Bundespräsidentenwahl – die zur Aufhebung führenden Mängel waren bereits bei der vorhergegangenen Wahl in einem OSZE-Bericht enthalten – und auch bei der "Flüchtlingskrise". In deren Zusammenhang sagte mir im Rahmen einer Studie ein hoher Beamter, dass die großen Flüchtlingszahlen bereits ein Jahr zuvor in der Beamtenschaft erkannt worden seien. Als ein Minister darüber informiert wurde, sagte er bloß: "Danke, dass du mir den Tag verdorben hast."

War es diesmal ganz anders, oder ist es doch ein wenig so?

Am 25. Februar, in Tirol wurden die ersten zwei Fälle registriert, trat erstmals der Einsatzstab im Innenministerium zusammen. Es wurden Stäbe auf Landesebene sowie eine Taskforce im Gesundheitsministerium eingerichtet.

Netanjahu-Telefonat

Die Erzählung von Bundeskanzler Sebastian Kurz, so DER STANDARD am 28. März, lautet so: "Erst die Warnungen des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu während eines Telefongesprächs hätten ihn ‚wachgerüttelt‘ und den Ernst der Corona-Krise erkennen lassen." Das Gespräch fand in der ersten Märzwoche statt.

Es stellt sich daher die Frage: Schätzten der Einsatzstab und die Taskforce vorher die Lage falsch ein, kommunizierten sie deren Ernst an den Bundeskanzler ungenügend, oder aber fanden sie zum Unterschied vom israelischen Ministerpräsidenten nicht hinreichend Gehör?

Diese Frage ist keine bloß akademische, sondern auch in Zusammenhang mit folgenden Themen bedeutsam: Gehört das Desaster in Tirol nur den Tirolern, oder hätte da auch nicht der Bund früher energischer eingreifen können? Hätte man die jetzt fehlenden medizinischen Güter nicht schon etwas früher, als es erfolgt ist, beschaffen können? Wäre es dann möglich gewesen, von Beginn an mehr auf Masken und weniger auf Geschäftsschließungen zu setzen?

Es ist zu hoffen, dass wir die Covid-19-Krise gut überstehen. Es ist nicht zu hoffen, dass, so wie es nach der "Flüchtlingskrise" unterblieben ist, auch diesmal eine kritische Nachbearbeitung des Krisenmanagements weitgehend vermieden wird. (Wolfgang Gratz, 2.4.2020)