Im Gastkommentar fordert die grüne EU-Abgeordnete Monika Vana ein demokratiepolitisches Kontrollsystem für alle EU-Staaten.

Ausverkauft, das heißt es derzeit nicht nur regelmäßig bei Schutzmasken oder Klopapier, ausverkauft melden auch Buchhandlungen bei einer Bestellung von Albert Camus' "Die Pest". Der Roman über den Ausbruch der Epidemie in der algerischen Hafenstadt Oran lässt sich in vielerlei Hinsicht als Blaupause für die jetzige Corona-Pandemie lesen: Ein selbstloser Helfer und Menschen mit Zivilcourage kommen genauso vor wie die Hedonisten, die Ignoranten und Hetzer, und dann sind da noch die Profiteure. "Aber was für alle Übel dieser Welt gilt, gilt auch für die Pest", sagt die Hauptfigur des Romans, der Arzt Bernard Rieux. "Sie kann dazu dienen, einigen wenigen zum Wachstum zu helfen."

Viktor Orbán am Montag im ungarischen Parlament, als dort das Notstandsgesetz beschlossen wurde, das es ihm ermöglicht, zeitlich unbefristet und ohne parlamentarische Kontrolle auf dem Verordnungsweg zu regieren.
Foto: EPA / Zoltan Mathe

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán hat sich von seiner Zweidrittelmehrheit im Parlament zu einem der Profiteure der Corona-Krise machen lassen, hat das Virus, das andere krankmacht und tötet, zum Ausbau seiner Macht genützt. Das ungarische Parlament hat sich mit den Stimmen seiner Fidesz-Partei selbst ausgeschaltet, die ungarische Demokratie ist bestenfalls in einen Standby-Modus abgedreht, wann sie wieder eingeschaltet wird, entscheidet der Ministerpräsident mit der Lizenz zum Diktator auf unbestimmte Zeit.

Spitze des Eisbergs

Das Schild "Ausverkauft" kann somit seit Anfang dieser Woche auch an die Parlamentstür in Budapest gehängt werden. Und dieses "Ausverkauft" sollte die EU-Kommission noch mehr wachrütteln, wie die Engpässe an medizinischen und anderen Produkten des täglichen Lebens in den Mitgliedsländern. Denn Ungarn ist nur die Spitze des Eisbergs an antidemokratischen Maßnahmen unter dem Vorwand der Krankheitsbekämpfung.

Meist unter der Oberfläche der medialen Wahrnehmung und der internationalen Aufmerksamkeit stehen auch in anderen EU-Mitgliedsstaaten aufgrund der Maßnahmen zur Corona-Bekämpfung Demokratie, Datenschutz und Medienfreiheit massiv unter Druck. Die Kommission sollte daher ein Corona-Demokratie-Monitoring etablieren, in dem die einzelstaatlichen Corona-Maßnahmen erfasst und ihre Gefährlichkeit für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte mithilfe eines Ampelsystems eingestuft werden. Grün-, Gelb-, Rot-Signale für "ohne Bedenken", "Achtung" oder "Stopp, No-Go!". Mit Fortdauer der Corona-Krise ist ein derartiges Kontrollsystem für alle EU-Staaten das demokratiepolitische Gebot der Stunde!

Unerlässliche Transparenz

Erst ein solches umfassendes, alle EU-Mitgliedsstaaten einbeziehendes Corona-Demokratie-Monitoring schafft die für dieses Thema unerlässliche Transparenz und verhindert, dass andere Regierungen im Windschatten Ungarns ebenfalls der Orbán-Versuchung verfallen und antidemokratische Maßnahmen auf unbegrenzte Zeit einführen. Außerdem wird es auch wieder ein Nach-Corona geben. Dann kann und muss dieses Monitoring als punktgenaues Werkzeug genutzt werden, um die Rücknahme der kurzfristig und zur Bewältigung des Notstands erlassenen Gesetze nach Ablauf der Corona-Krise zu begleiten und die Abschaffung aller dieser Maßnahmen zu überwachen.

Camus' "Die Pest" gilt als Parabel auf den Zweiten Weltkrieg, auf die Besetzung Frankreichs durch die Nationalsozialisten und als Plädoyer für die Résistance und Solidarität im Kampf gegen Tod und Tyrannei. Als zu Beginn des Romans der Arzt Rieux als Erster die Seuche identifiziert und benennt‚ bezweifelt er, dass man seiner Warnung glauben wird: "'Sie wissen, was man uns zur Antwort geben wird', sagte der alte Arzt. 'Sie ist seit Jahren aus den gemäßigten Zonen verschwunden.'" Das Gleiche könnte man auch von der Diktatur-Seuche glauben – dass sie in unseren europäischen Zonen ausgestorben ist. Dass dem nicht so ist, wurde am Montag dieser Woche in Budapest bewiesen. Und auch dieses Virus kennt keine Grenzen. Deswegen braucht es eine Demokratie-Ampel, die auf Rot schaltet, bevor das Schild "Ausverkauft" auch an weiteren Parlamentstüren in der EU hängt. (Monika Vana, 1.4.2020)