Jedes zweite Kind mit Migrationshintergrund lebt in engen familiären Wohnverhältnissen. Von den einheimischen Kindern müssen sieben Prozent in überbelegten Wohnungen leben und lernen.

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Wer lernen soll, braucht Ruhe und Platz. Das ist gerade jetzt für viele Kinder noch schwerer zu haben als in der Zeit vor Corona. Homeschooling und Ausgangsbeschränkungen, die die Familien auf die eigene Wohnung zurückwerfen, stellen vor allem für jene eine extreme Belastung dar, die in beengten Wohnverhältnissen leben. Das betrifft österreichweit 215.500 Kinder unter 14 (von insgesamt 1,3 Millionen). Rechnet man die 15- bis 18-Jährigen dazu, von denen viele Oberstufenklassen oder Berufsschulen besuchen, kommt man auf 261.100 Kinder und Jugendliche (16,2 Prozent), die unter derart schwierigen Bedingungen leben müssen und lernen sollen. Ihr Anteil ist doppelt so hoch wie der Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. Da sind 7,5 Prozent von Wohnungsenge betroffen.

Diese Zahlen hat der Soziologe Johann Bacher auf dem "Arbeit-&-Wirtschaft-Blog" publiziert, und er warnt dort mit Blick auf die betroffenen Kinder in Corona-Zeiten: "Ihr Wohlergehen ist in besonderem Ausmaß gefährdet."

Beengt bedeutet überbelegt

Grundsätzlich gilt als "beengt" oder "überbelegt", wie es die Statistik Austria nennt, eine Wohnung mit einer Nutzfläche unter 35 Quadratmetern, in der zwei der mehr Personen leben, oder drei und mehr Menschen auf 35 bis 60 beziehungsweise vier und mehr auf 60 bis 70 Quadratmetern. Leben fünf oder mehr Leute auf 70 bis 90 Quadratmetern, gilt das ebenso als beengt wie ein Haushalt mit sechs und mehr Menschen, die sich 90 bis 110 Quadratmeter teilen müssen.

Bacher zufolge stehen den in beengten Wohnverhältnissen lebenden Kindern bis 14 im Durchschnitt 14,2 Quadratmeter (inklusive Küche, Bad, WC, Gang et cetera) pro Kopf zur Verfügung. In nicht beengten sind es 33,4 Quadratmeter.

Jedes zweite Migrantenkind betroffen

Kinder in Städten, aus Familien mit Migrationshintergrund, mit Eltern mit geringer Bildung oder mit vielen Geschwistern leben besonders häufig auf engstem Raum mit ihrer Familie. Während nur sieben Prozent der unter 14-Jährigen aus autochthonen, also einheimischen Familien beengt leben, ist es fast jedes zweite Kind aus einer Migrantenfamilie.

Eltern mit maximal Pflichtschulabschluss sowie drei und mehr Geschwister unter 18 erhöhen das Risiko, in einer überbelegten Wohnung zu leben, auf 50 beziehungsweise 51 Prozent, rechnet Bacher, Professor für Soziologie und empirische Sozialforschung an der Johannes-Kepler-Universität Linz, vor.

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Mit wachsender Wohngemeinde wächst auch das Risiko der Wohnungsenge – von sechs Prozent in Gemeinden bis 10.000 Einwohnern auf 30 Prozent in Städten mit 100.000 bis 500.000 Einwohnern.

In Wien beträgt das Risiko 39 Prozent, was mit dem höheren Migrationsanteil, aber auch dem Wohnungsmarkt zu tun hat, erklärt der Sozialforscher.

Ein Bündel an Benachteiligungen

Die Wohnsituation ist aber nur ein Faktor aus einem Bündel an Benachteiligungen, schreibt Bacher: "Kinder in beengten Wohnverhältnissen sind auch in einem höheren Ausmaß armutsgefährdet und schulisch benachteiligt, da ihre Eltern ein geringes Einkommen haben und ihre Kinder weniger bei Schulaufgaben unterstützen können. Die Befunde sind ein deutlicher Hinweis, dass dieser Aspekt in der Vergangenheit zu wenig beachtet wurde."

Was also tun? Die Wohnbaupolitik sollte langfristig "neben der Bereitstellung von günstigem Wohnraum auf eine Reduktion der beengten Wohnverhältnisse abzielen". Bacher schlägt vor, dass Gemeinden und Genossenschaften "geeignete ältere Wohnungen, die preiswerter als Neubauten sind, ankaufen und dann zu angemessenen Preisen vermieten".

Soforthilfemaßnahmen notwendig

Diese Kinder brauchen aber jetzt sofort Hilfe. Ausgehend von einer anderen Studie, die gezeigt hat, dass das Wohlbefinden von Kindern in der Wohnung abhängt vom Handlungsspielraum in der Wohnung, dem Wohlbefinden in der Wohnumgebung und dem Wohlbefinden in der Familie, leitet Johann Bacher fünf Handlungsempfehlungen ab:

  • Wohnung Um den Handlungsspielraum der Kinder in der Wohnung zu erhöhen oder zumindest beizubehalten, sollte man zum Beispiel das Spazierengehen aufteilen. Ein Teil der Familie bleibt zu Hause und nutzt dann die freien Räume für unterschiedliche Aktivitäten (auch für Schulaufgaben).

  • Wohnumgebung Bezogen auf die – vor allem in der Stadt – eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten in der Wohnumgebung schlägt Bacher als "gewisse Kompensation" vor, dass die Kinder "erkundende Spaziergänge" im Wohnungsumfeld machen könnten, vielleicht angeleitet durch eine Handy-App oder als Arbeitsauftrag der Lehrer.

  • Familie Was das familiäre Zusammenleben anlangt, so ist die Gefahr groß, dass durch die engen Wohnverhältnisse, Arbeitslosigkeit et cetera Dinge oft schneller eskalieren. Da braucht es "präventive Angebote, die Familien helfen, die Zeit produktiv zu nutzen und das Auftreten von Konflikten überhaupt zu vermeiden versuchen".

  • Unterstützung Die Hilfe muss niederschwellig, aufsuchend, also auf sie zugehend, und multiprofessionell sein, sagt Bacher, denn: "Kinder beziehungsweise deren Eltern, die benachteiligt sind, werden die dargestellten Handlungsoptionen nicht selbst ergreifen." Sie muss man via Handy oder Informationsmaterial per Post aktiv ansprechen.

  • Städte Und ganz allgemein gilt, dass in Städten "besonderer Bedarf nach Interventionen besteht".

Mit Blick auf die Zukunft mit oder nach Corona empfiehlt Sozialforscher Johann Bacher: "Bei der Öffnung der Infrastruktur sollte Kindern der Vorrang eingeräumt und zum Beispiel zuerst die Spielplätze geöffnet werden, anschließend Kindergärten, Volksschulen und Schulen der Sekundarstufe I." (Lisa Nimmervoll, 2.4.2020)