Ein verschmiertes Wahlplakat aus Zeiten der Kommunalwahlen.

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Es war wenige Stunden nach Schließung der Wahllokale, als Laurent Vastel die ersten Symptome spürte – extreme Müdigkeit, starkes Fieber. Heute weiß der 60-jährige Bürgermeister des Pariser Vororts Fontenay-aux-Roses, was der Grund war: Covid-19.

Am Wahlabend des 15. März, also vor weniger als drei Wochen, waren die Symptome noch nicht allen bewusst. Die Wahlaufsicht hatte zwar Desinfektionsgel aufgestellt, sie reinigte regelmäßig Kugelschreiber und die Wahlurne. Das hatte die Regierung empfohlen. Mehr nicht.

Am Abend schützten sich die Stimmenauszähler nicht speziell; ohne jeden Schutz griffen sie sich die Sandwiches am kalten Buffet. Heute sind in Fontenay ein Dutzend Wahlhelfer infiziert, der Vizebürgermeister wird im künstlichen Koma beatmet. Vastel entging knapp der Intubation und erholte sich nach mehreren Tagen im Krankenhaus.

Drei Bürgermeister tot

Anderen ist das nicht mehr vergönnt. Drei ältere Bürgermeister kleinerer Gemeinden sind nach einem jeweils mehrstündigen Einsatz im Wahlbüro gestorben: Alain Lescouët (74) in der Champagne, Jacques Lajeanne (82) im Burgund, François Lantz (74) im Elsässer Ort Saint-Nabor. Zahllose Gemeinderäte der 36.000 französischen Kommunen sind infiziert, dutzende kämpfen ums Überleben.

Die Frage stellt sich von selbst: Hätten die Gemeindewahlen nicht stattfinden dürfen? Im Nachhinein sind sich alle einig: Die Abhaltung des ersten Wahlgangs war ein Fehler. Schon einen Tag später, am 16. März, ordnete Emmanuel Macron die Schließung der Schulen an und erklärte, Frankreich befinde sich "im Krieg".

"Vor einem Tsunami"

Die damalige Gesundheitsministerin Agnès Buzyn erklärte nach der Wahl, sie habe Premierminister Édouard Philippe schon am 30. Jänner informiert, dass der Urnengang "nicht durchführbar" sei. Macron hörte nicht auf sie; im Gegenteil schickte er die prominente Ministerin noch selbst in den Wahlkampf in Paris, nachdem sein Spitzenkandidat dort wegen eines Sexskandals ausgefallen war. Als Buzyn den Job annahm, brach sie vor den Kameras in Tränen aus. Heute erklärt sie ihr Verhalten mit der anrollenden Corona-Welle: "Ich weinte, weil ich wusste, dass wir vor einem Tsunami standen."

Entsprechend aufgebracht sind viele Lokalpolitiker über Macron. "Ich bin wütend über unseren Präsidenten, weil er nicht den Mut oder die Geistesgegenwart hatte, die Wahlen zu annullieren", sagt Pierre-Jean Birken, Bürgermeister der Gemeinde Saint-Fons bei Lyon. Dort gelangt die parteilose Spitzenkandidatin Chafia Zehmoul, die fünf ihrer Listenkollegen im Spital weiß, an den Justizhof der Republik: Frankreichs Gericht für hohe Politiker soll Macron wegen "fahrlässiger Verletzung" belangen, findet Zehmoul.

U-Kommission vorbereitet

Die konservative Partei Les Républicains bereitet ihrerseits ein Gesuch für eine parlamentarische Untersuchungskommission vor. Wegen der dramatischen Lage im Land wird der Antrag nicht sofort eingereicht. "Jetzt geht es um nationale Einheit, es ist zu früh zu fragen, wessen Fehler es ist", beschwichtigt Jérémie Bréaud, Vorsteher des ebenfalls mehrfach getroffenen Gemeinderats von Bron. Auch für ihn ist aber "klar, dass die Regierung und der Präsident zu spät reagiert haben".

Nicht alle teilen diese Meinung. "Nicht zu vergessen, die meisten Kandidaten wünschten damals die Abhaltung der Wahlen", glaubt Philippe Laurent, Bürgermeister des Pariser Nobelvororts Sceaux, wo sechs Gemeinderäte und Wahlbürobeisitzer an Covid-19 erkrankt sind. Nur ganz wenige Orte, so etwa Daubeuf-la-Campagne (Normandie), weigerten sich, den ersten Wahlgang am 15. März durchzuziehen.

Zweiter Wahlgang im Oktober

Dass die Republikaner nun eine Untersuchungskommission gegen Macron einrichten wollen, wirkt zudem reichlich scheinheilig: In den Tagen vor dem ersten Wahlgang hatten sich vor allem die Républicains für die Abhaltung der Wahl starkgemacht – denn sie hofften auf eine Schlappe Macrons wegen seiner unpopulären Pensionsreform. Dies war wohl auch der Hauptgrund für Macrons Fehlentscheid: Er wollte sich paradoxerweise nicht der Kritik aussetzen, er verschiebe ihm unliebsame Wahlen. In der Tat verlor seine Partei Boden gegenüber Grünen und Republikanern.

In knapp 5.000 eher größeren Orten muss noch ein zweiter Wahlgang organisiert werden. Er dürfte, wie am Donnerstag inoffiziell aus dem Élysée-Palast verlautete, im Oktober stattfinden. Zuerst hatte Macron den 21. Juni als Termin geplant, also in weniger als drei Monaten. Doch offensichtlich will sich der Präsident nicht noch einmal verkalkulieren. (Stefan Brändle aus Paris, 2.4.2020)