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Philosophie und Einsamkeit gehen Hand in Hand: Auguste Rodins "Denker" (1880), geschaffen in einer Existenzkrise des Bildhauers, sitzt ganz allein auf seinem Stein.

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Machen uns Krisen stärker?

Vordergründig betrachtet lässt sich der aktuellen Krise wenig Positives abgewinnen. Wo Leid und Tod über die Menschen hereinbrechen, ist es um die Freude am Dasein und Schöngeistigen erst einmal geschehen. Ein Blick in die Philosophiegeschichte zeigt aber, dass gerade die Krisenerfahrung fruchtbar für das Denken sein kann. Das Wort Krise kommt vom Altgriechischen "krísis", was einerseits für Zuspitzung, aber auch für Entscheidung, Unterscheidung, Beurteilung stehen kann. Philosophieren, das heißt Denken mit System, beginnt demnach gerade erst in und mit einer Krise.

Die Liste an Denkern, die dieser Auffassung folgten, ist lang. Aus dem Bücherregal hervorgeholt werden dieser Tage gerne die Existenzialisten um Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und Albert Camus, dessen Werk Die Pest plötzlich wieder Bestsellerlisten erklimmt. Als wirkmächtigster Krisendenker gilt aber Friedrich Nietzsche. Wir alle kennen den Spruch "Was mich nicht umbringt, macht mich stärker". Er findet sich leicht abgewandelt in Nietzsches Ecce Homo und trifft, man denke etwa an bleibende Schäden nach Unfall und Erkrankung, nüchtern betrachtet wahrlich nicht immer zu.

Wofür Nietzsche aber plädiert, ist Folgendes: In Krisen, die er als existenziellen Konflikt zwischen Vergangenem und Zukünftigen erkennt, sei es falsch, dem Gewesenen nachzutrauern. Stattdessen solle alle kreative Anstrengung auf das Künftige gerichtet sein. Es sei die Zeit, Neues zu erdenken. Fenstermusiker hätten Nietzsche gefallen, für sinnvoll befand er auch Routinen und die Hingabe an vermeintlich Nebensächliches. Nur im Aussitzen und Nichtstun sieht Nietzsche keine Option.

Aber ist es nicht gerade das, wozu uns die Heimisolation mitunter zwingt? Und wenn ja, ist das verwerflich? Kann uns das Einüben ins Nichtstun nicht vielmehr die sonst so vehement herbeigesehnte Ruhe und innere Einkehr verschaffen?

Wie lernen wir Gelassenheit?

Gerade China, wo das Coronavirus vermutlich seinen Ursprung nahm, hätte genug Lebensphilosophie aufzubieten, um dem Schrecken zu begegnen: Im Zentrum fernöstlicher Spiritualität steht nämlich die Lehre des Gelassenseins. Konfuzius empfiehlt, ohne Erwartung zu leben, sich selbstlos der Familie anzunehmen und das Gros der Verantwortung an die staatliche Fürsorge abzutreten. Der Taoismus betont entgegen Nietzsches Ansicht das Verweilen im Hier und Jetzt und lehnt es ab, sich zu viele Gedanken über das Kommende zu machen. Es sind Lehren, denen die Entscheidungsträger im politmedizinischen Komplex, der nun mit aller Macht Leben retten will, freilich nicht folgen können.

Aber auch die westliche Philosophietradition hat mit den Stoikern ihre Gelassenheitsdenker. Bei Seneca finden wir die Idee, wonach man sich einzig um das kümmern sollte, worüber man auch wirklich selbst verfügt. Alles andere? Bleiben lassen. Was aber, wenn wir in der aktuellen Situation die Ohnmacht verspüren, überhaupt nichts mehr verfügbar, gar nichts mehr im Griff zu haben? Und wie sollen wir zur Ruhe kommen, wenn uns ein beständiger Strom an Schreckensmeldungen durchdringt, während soziale Beziehungen gekappt sind?

Was tun gegen Vereinsamung?

Ein tröstender Gedanke findet sich vielleicht in den Theorien des Soziologen Hartmut Rosa. Ihm zufolge erfahren wir in einer sich ständig beschleunigenden und uns überfordernden Welt, in der wir versuchen, immer mehr in Reichweite zu bringen, immer mehr verfügbar, also in den Griff zu bekommen, echtes Glück nur in Resonanzbeziehungen: in Gesprächen, Momenten, Tätigkeiten, die uns emotional "ansprechen".

Der Reiz solcher Beziehungen entsteht laut Rosa aber nur dann, wenn wir etwas nicht permanent verfügbar haben. Es ist das Konzert unter besonderen Umständen oder die Schallplatte mit Geschichte, die uns Resonanz verschafft, nicht die permanent und nahezu vollständig abrufbare Mediathek des Streamingdienstes am Smartphone.

In der Corona-Krise, in der wir eine gewaltige Unterbrechung der physisch verfügbaren Welt erleben, helfen uns nun aber gerade die digitalen Mittel gegen die Vereinsamung. Das Gespräch mit lange nicht mehr vernommenen Freunden und Familienmitgliedern über Videotelefon oder das plötzliche Wertschätzen von Dingen, die vor der Krise als selbstverständlich galten, können eine gänzlich neue Qualität von Resonanz erzeugen. Nur, was ist mit jenen, die am technologischen Zeitgeist viel weniger teilhaben können? Alten, Armen, Kranken?

Was heißt Solidarität?

Die nun allerorts eingeforderte Wiederentdeckung der Solidarität geschieht oft mit einem Hinweis auf das Gemeinschaftsgefühl des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg. Soziologen wie Heinz Bude oder Eva Illouz glauben, dass die Krise eine Rückkehr des starken (Sozial-)Staats bewirken werde, der von Gesellschaften, die durch 40 Jahre Neoliberalismus teils zerrüttet sind, freudig begrüßt werde. Die Gefahr von ganz rechts, glaubt Bude, sei gebannt, da diese mögliche neue Ordnung von Konservativen getragen werde. Dass aber auch sie autoritär kippen können, lehrt uns die Zwischenkriegszeit. Oder Viktor Orbáns Ungarn. (Stefan Weiss, 3.4.2020)