Der Präsident verkündete in einer Ansprache, dass die Menschen in Russland länger zu Hause bleiben müssen.

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Der Chefarzt des Moskauer Corona-Krankenhauses, Denis Prozenko, ist mit dem Virus infiziert. Nur Tage vor dem positiven Test hatte er dem russischen Präsidenten die Hand geschüttelt.

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Die Straßen der russischen Hauptstadt leeren sich, obwohl mehr als die Hälfte der Bürger noch zur Arbeit gehen.

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Zum zweiten Mal innerhalb einer Woche hat sich Kreml-Chef Wladimir Putin in einer Fernsehansprache an die Russen gewandt, um sie auf die Corona-Krise einzustimmen.

Der russische Präsident verlängerte dabei die derzeitige "freie Woche" auf den ganzen Monat. Putin erklärte den gesamten April für arbeitsfrei, wobei er den Bürgern weiter "volle Bezahlung" zusicherte. Ausgenommen von der Regelung sind nur Berufe, die für das Funktionieren des öffentlichen Lebens notwendig sind.

Die übrigen forderte Putin dazu auf, zu Hause zu bleiben. Nur so könne die Verbreitung des Coronavirus eingedämmt werden. Seinen Angaben nach steht der Höhepunkt der Krise "weltweit, aber auch in Russland" noch bevor. Tatsächlich hat die Pandemie Russland mit einiger Verspätung erreicht. Zwar gab es zwei Einzelfälle schon Ende Jänner, doch laut den offiziellen Zahlen setzte die Verbreitung erst Mitte März ein – mit der Rückkehr von Touristen aus betroffenen Corona-Gebieten, speziell in Europa.

Größter Tageszuwachs

Am Donnerstag wurden in Russland 771 Neuansteckungen gemeldet. Das war bislang der mit Abstand größte Tageszuwachs. Damit ist die Zahl der Infizierten auf 3.548 gestiegen. Die meisten Patienten befinden sich in Moskau, aber inzwischen gibt es Fälle in über 70 Regionen des Landes. Getroffen hat es sogar den obersten Corona-Arzt Russlands: Der Chefarzt des Moskauer Corona-Krankenhauses, Denis Prozenko, teilte am 31. März seine Erkrankung mit. Einige Tage zuvor hatte er noch Putin die Hand geschüttelt. Der Kreml-Chef hat sich daraufhin nach einigem Zögern ebenfalls in seiner Residenz bei Moskau isoliert, ist laut seinem Pressesprecher aber nicht infiziert. 30 Menschen sind bisher mit Covid-19 gestorben.

Die russische Regierung hat immer wieder versichert, auf die Lage vorbereitet zu sein. Doch es gibt massive Zweifel daran, dass gerade in den Regionen die stark zusammengesparten medizinischen Einrichtungen dem potenziellen Andrang gewachsen wären. Daher sind die harten Vorbeugungsmaßnahmen nötig, um die Ausbreitung des Virus schon im Anfangsstadium so weit wie möglich einzudämmen. Dazu nutzen die Behörden alle technischen Mittel: So wird der Hausarrest in einigen Regionen schon per Handytracking überwacht. Raus dürfen die Bürger dort nur noch, nachdem sie einen QR-Code, der ihnen per SMS oder App zugeschickt wird, bekommen haben. Die Gültigkeit des Codes ist zeitlich begrenzt.

Wirtschaft wird Opfer des Virus

Laut Putin zeigen die Isolierungsmaßnahmen schon erste Erfolge. Für die Wirtschaft dürften sie allerdings teuer werden: Jede Woche Stillstand koste das Bruttoinlandsprodukt ein Prozent, schätzt der Direktor des Zentrums für Finanztechnologien und digitale Wirtschaft in Skolkowo, Oleg Schibanow. Bei vier Wochen wäre allein das ein Minus von vier Prozent, rechnet der Experte vor.

Dabei leidet die russische Volkswirtschaft ohnehin schon massiv durch den Ölpreisverfall. Der ehemalige Finanzminister und jetzige Rechnungshofchef Alexej Kudrin hatte zuletzt ein BIP-Minus von bis zu acht Prozent für das Jahr vorausgesagt – allerdings hatte er da noch nicht die Folgen des völligen Stillstands im April einberechnet.

Gerade der Retailsektor werde nicht lange durchhalten, prognostiziert Sergej Schaworonkow, Senior Analyst am Gaidar-Institut. Die Maßnahmen der russischen Führung schränken den Konsum stark ein. Geöffnet haben sollen nur Lebensmittelgeschäfte und Apotheken.

60 Prozent der Moskauer arbeiten

Bei den Unternehmern regt sich daher Widerstand. Artjom Lebedjew, Chef des gleichnamigen Designerstudios in Moskau, echauffierte sich bereits in der vergangenen Woche über die Entscheidung, den Russen eine Woche freizugeben. "Das ist sehr cool, allen Leuten das Gehalt zu sichern. Aber woher sollen wir das Geld nehmen? Entschädigt vielleicht der Staat die privaten Firmen dafür?", fragte der bekannte Unternehmer. Und fügte hinzu, es gebe genügend Leute, "die auf meine Kosten großzügig sind". Da er kein Ölmulti sei, bitte er seine Angestellten trotzdem zur Arbeit.

Lebedjew ist diesbezüglich nicht der Einzige. Immerhin 60 Prozent der Moskauer arbeiten derzeit, obwohl viele von ihnen offiziell freigestellt sind. Das liegt auch daran, dass das von Putin zugesagte "volle Gehalt" eben nicht das volle ist: Bei den meisten Arbeitnehmern setzt sich der Lohn aus einem relativ niedrigen Grundgehalt und einer Prämie zusammen, die die Angestellten aber nur bekommen, wenn sie tatsächlich zur Arbeit gehen. Im Krankheits- oder wie jetzt Quarantänefall fallen diese Prämien weg.

Drei Millionen Unternehmer bedroht

Doch es droht noch viel schlimmer zu werden. Denn laut der russischen Industrie- und Handelskammer sind drei Millionen Unternehmer in Russland akut von der Pleite bedroht. Besonders betroffen ist die Tourismus- und Gastronomiebranche. Die Regierung hat bis Juni alle Hotels geschlossen, Cafés und Restaurants in Moskau sind dicht, einzig durch den Lieferservice können sich einzelne über Wasser halten. "90 Prozent der Klein- und Mittelständler – solche wie ich – werden von der Viruserkrankung nicht mehr genesen", klagte Anastasija Tatulowa, die Besitzerin der bis dato erfolgreichen Kindercafé-Kette Anderson. Die Unternehmerin hatte sich kürzlich an Putin mit der Bitte um mehr staatliche Unterstützung gewandt.

Tatsächlich ist das Hilfsprogramm der Regierung bis dato eher dürftig. Nicht nur in absoluten Zahlen sind die 1,2 Billionen Rubel (14 Milliarden Euro) deutlich weniger als das, was Deutschland, Frankreich oder die USA an Hilfsgeldern ausgeben. Auch prozentuell ist der Kreml mit etwa einem Prozent des BIP deutlich sparsamer als westliche Pendants. Experten fordern ein Aufschnüren des Wohlstandsfonds, in dem rund 100 Milliarden Euro an Reserven liegen. Dieser sei eben für solche Krisenzeiten angelegt worden, argumentieren sie. Schaworonkow kritisierte zudem, dass die russische Führung zur Gegenfinanzierung Bankguthaben über einer Million Rubel (knapp 12.000 Euro) besteuern will. Putin habe wohl als Einziger das Know-how entdeckt, in Krisenzeiten die Steuern zu erhöhen, spottete der Ökonom. (André Ballin aus Moskau, 2.4.2020)