Der junge Bestatter fährt mit dem Leichenwagen bis zum Friedhofstor. Neben ihm sitzt der Bodybuilder. Zumindest nennen ihn mein Vater und ich wegen seiner Physiognomie so. Zu viert heben wir den Sarg aus dem Kofferraum und tragen ihn an den Griffen zum geöffneten Grab. Es ist unser erstes Begräbnis während der Pandemie.

Tatsächlich Totenstille auf Begräbnissen während der Corona-Zeit.
Mario Schlembach

Als der Ausnahmezustand erklärt wurde, saß ich im Zug Richtung Innsbruck, um die Dernière meines ersten Theaterstücks zu besuchen. Alle Veranstaltungen, die mehr als hundert Menschen in einem geschlossenen Raum versammelten, durften nicht mehr stattfinden. Ich rief den Intendanten an, und er versicherte mir, dass die Aufführung durchgezogen werde, da die Spielstätte nur Kapazitäten für achtzig Personen hätte. Am frühen Nachmittag bezog ich mein Hotelzimmer neben dem Triumphbogen und stellte mich unter die Dusche. Immer heißer drehte ich das Wasser, als könnte ich die Viren und den auf mich einprasselnden Gedankenschauer einfach wegbrennen.

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Wie immer sind wir vor einer Beerdigung kurz vor acht Uhr früh am Friedhof gewesen. Wie immer haben wir die Erdkiste aufgestellt. Und wie immer haben wir das Grab ausgehoben. Das Dorf ist mir ausgestorben erschienen. Schwarze Vögel sind durch den weißen Nebel geglitten, und nur das Geräusch der aufschlagenden Erde ist in der kalten Luft zu hören gewesen. Totenstille! An dieses Wort habe ich denken müssen und kurz über die Banalität dieser Metapher gelacht. Und doch: In keiner anderen Szenerie ist mir dieses Bild je so deutlich geworden. Hier erst habe ich zu begreifen begonnen, dass sich etwas verändert hat. Zwar ist jeder Handgriff unserer Arbeit bis zu diesem Zeitpunkt gleich geblieben, aber die Bühne hat sich verschoben. Wer sind wir, und was wir machen, wenn die Geräusche des Alltags fehlen und uns keine anderen Menschen beobachten? Aus Gewohnheit haben wir gehandelt wie immer.

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Nach der ausgiebigen Dusche ging ich ins Zentrum der Stadt, um mich unweit vom Goldenen Dachl für die Dernière neu einzukleiden. Die Temperaturen waren nahe dem Gefrierpunkt, und es regnete. Im Café Central holte ich ein Manuskript aus meiner Ledertasche. Ich feilte an den letzten Sätzen eines Tagebuchessays. Vor über einem Jahr wurde eine Lungenkrankheit bei mir diagnostiziert, und ich schrieb über die Auswirkungen der Medikation auf mein alltägliches Leben. Wenn ich die Medienberichte richtig verstanden hatte, dann war ich wegen meiner Cortison-Therapie jetzt Teil der Risikogruppe. Eine Art von Zugehörigkeitsgefühl, das ich mir gerne erspart hätte.

Nur die engsten Angehörigen dürfen bei Beerdigungen anwesend sein.
Mario Schlembach

Fünfzehn Minuten vor der Beerdigung kommen die Trauergäste. Nur die engsten Angehörigen dürfen anwesend sein. Der junge Bestatter bittet sie, sich in möglichst kleinen Gruppen und weiträumig um das Grab her um aufzustellen, damit der nötige Sicherheitsabstand gewahrt bleibt. Zwei schaulustige Pensionisten, die die angebrachten Schilder mit dem Betretungsverbot für den Friedhof gekonnt ignorieren, weil sie "ja nur zu ihren Ruhestätten wollen", gehen seelenruhig den Hauptweg entlang und sind verblüfft, als sie vom Bodybuilder höflich, aber bestimmt hinauskomplimentiert werden. Während wir auf den Pfarrer warten, stehen mein Vater und ich neben der Urnenwand, um uns vom eisigen Wind zu schützen. Mein Blick fällt auf die Nische des ehemaligen Wiener-Kasperltheater-Besitzers, der im vergangenen Jahr – drei Tage vor seiner Pensionierung – gestorben war. Auf dem Weg zum Friedhof wurde damals die Trauergemeinde beim Bahnübergang getrennt, und die Blasmusik musste zu spielen aufhören. Für einige Minuten herrschte beklommene Stille im Leichenzug. Eine Szene aus Jean-Luc Godards Film Außer Atem kam mir damals in den Sinn, in dem die Figuren für einen Moment aus der Inszenierung gerissen und die Bruchstellen zur Realität damit (über)deutlich werden. Der vorbeirauschende Güterzug wehte einige Hüte von den Köpfen der Blaskapelle, und sobald die Schranken wieder aufgingen, spielten sie weiter, als wäre nichts gewesen. Auch André Heller – der im Begriff war, das Kasperltheater zu übernehmen – war zur Trauerfeier gekommen, und seinem Blick konnte man ablesen: "Is des normal?"

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Die Stimmung im Innsbrucker Kellertheater war betrübt. Achtzig Karten waren reserviert gewesen und im Laufe des Tages wurden über zwanzig storniert. Leises Getuschel unter den Gästen, als hinge ein Fallbeil über uns allen. Während der Aufführung merkte man den Zwang des Publikums, jeden Huster zu vermeiden, der sofort eine Reihe an verunsicherten oder wütenden Blicken nach sich zog. Die Pointen des Stücks kamen trotzdem an. Mehr noch! Das Lachen schien in dieser Atmosphäre des Ungewissen befreiend zu wirken. Die Schauspielerin mobilisierte für die letzte Vorstellung – nachdem sie nun zum achtundzwanzigsten Mal die Rolle der Dichtersgattin verkörperte – all ihre Kräfte. Ein neunzigminütiger Monolog der fünfundneunzigjährigen Hedwig, die über Tod und Theater sinniert, während ihr Mann im Österreich-Pavillon der Biennale in Venedig seine letzten Atemzüge macht. Nach dem Applaus trat ich auf die Bühne und überreichte der Schauspielerin ein Geschenk. Als ich sie in kurzer Euphorie umarmen wollte, zuckte sie zurück. Im Hotel schlief ich während einer Diskussionsrunde über die Auswirkungen der jetzigen Situation auf die Kunstwelt ein. Ich träumte von den Viren, als wären sie Teil von meiner Lieblingsfernsehserie aus der Kindheit: Es war einmal ... der Mensch.

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Der Pfarrer kommt. Kein Kreuz, kein Weihwasser, nur die Heilige Schrift hält er in Händen. Er begrüßt die dezimierte Trauergemeinde, weist auf die außergewöhnliche Situation hin und dass er die Verstorbene in die Messe, die er jetzt jeden Tag allein (mit Gott) in der Kirche abhalte, miteinschließen werde. "Sie hätte sich ein anderes Begräbnis verdient gehabt", sagt der Geistliche und spricht nach dem Glaubensbekenntnis einige persönliche Worte. Den lachenden Pfarrer nenne ich ihn, weil er im Euphemismus sein Heil sucht. Als wir vor einiger Zeit ein Kind begruben, sprach er vom Himmel als eine Art "Zuckerwatte fabrik". Jedes Wort hörte sich für mich wie eine Beschwichtigung an, während in mir die Wut zu kochen begann, einen so jungen Menschen beerdigen zu müssen. Wo lag der Sinn darin? Mit welchen Mitteln konnte man dafür auch nur im Ansatz Verständnis und Akzeptanz finden? Als Erzähler mag ich den lachenden Pfarrer, aber wäre ich in Trauer, wo die Verzweiflung in einem selbst alles überschattet, weiß ich nicht, ob ich diese Worte ertragen könnte. Keine zehn Minuten dauert die Predigt, und als wir das Zeichen bekommen, treten der junge Bestatter, der Bodybuilder, mein Vater und ich zum Sarg und lassen ihn mit Seilen ins Grab hinab.

Das Ritual des Abschieds ist auf das Minimum reduziert und doch: Sollte nicht vielleicht die Ausnahme zur Regel werden?
Mario Schlembach

Beim Frühstück im Innsbrucker Hotel versuchte ich Eindrücke in meinem Notizbuch zu fassen. Schon nach den ersten Sätzen konnte ich die Nachrichten im Radio nicht mehr ausblenden. Der Vormittagszug nach Wien war zum Glück halbleer, und ich baute eine Barriere auf meinem Nebensitz. Jede halbe Stunde ging ich auf die Toilette, um mir die Hände zu waschen, und musste ständig das Bedürfnis unterdrücken, mir ins Gesicht zu greifen. Auch in der Wohnung ebbte die Unruhe nicht ab, also stürzte ich mich ins Sportbecken eines Fitnessstudios. Die Last der Gedanken schien von einem Moment auf den anderen abzufallen, und ich zog bis zur völligen Erschöpfung meine Bahnen. Ich fühlte mich schwerelos, während ich die Geräusche und die Geschehnisse der letzten Zeit wie unter einer Glaskuppel wahrnahm. Niemand sonst war hier, und ich hörte erst später, dass die gesetzlichen Maßnahmen zur Verlangsamung der Ansteckungskurve verschärft wurden. In den sozialen Medien schwebte das Wort Ausgangssperre in der Luft, und kurz bevor ich mich weiter dystopischen Szenerien hingab, vibrierte mein Telefon. Ich musste aufs Land, um meiner Arbeit als Totengräber nachzugehen: der erste Sterbefall im Ausnahmezustand.

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Nach den letzten Worten des Pfarrers beginnt der junge Bestatter Il Silenzio auf seiner Trompete zu spielen. Wo all die Worte und Rituale aus der Norm gefallen sind, bleibt die Musik, was sie ist: Instrument der Seele. Über alle Sprachen hinweg schürt sie am zutiefst Menschlichen. Mit den letzten Klängen treten die Angehörigen einzeln ans Grab und verabschieden sich von der geliebten Mutter, Großmutter, Tante und Schwester. Rote Rosen und eine Handvoll Erde werfen sie hinab und verlassen den Friedhof. Nachdem alle gegangen sind, ziehen sich mein Vater und ich in der Totengräberkammer um und erledigen unsere Arbeit – wie immer.

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Am Abend kann ich nicht aufhören, über das Geschehene nachzudenken. In einer Art Dauerschleife sehe ich die Bilder des Tages vorbeiziehen. Das Ritual des Abschieds ist auf das Minimum reduziert und doch: Sollte nicht vielleicht die Ausnahme zur Regel werden? Ein kurzer intimer Moment, der manchmal so viel mehr für die Trauerarbeit leisten kann als ein in die Länge gezogener Prozess und öffentliche Zurschaustellung? Bleiben Riten nicht leere Hüllen und Masken, wenn sie nicht auch im Leben ge- und belebt werden? Diese Situation ist nicht unerwartet gekommen. Sie hat sich bereits lange angekündigt. Die Dinge ändern sich, und manchmal bleibt nur die Notwendigkeit zum radikalen Schnitt, bis der Ausnahmezustand zur Regel wird.

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In wenigen Tagen hätte ich nach Italien aufbrechen sollen, um ein Stipendium unterhalb von Rom anzutreten. Einen Monat in einen Text abtauchen, in dem der Tod einmal nicht die Hauptrolle spielt. Und jetzt? ...

(Mario Schlembach, ALBUM, 5.4.2020)