Keir Starmer wird zwar nie ein mitreißender Redner werden, ihm traut aber die Basis am ehesten den Neustart zu.
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Provokanter hätte die Kampfansage kaum ausfallen können. Ausgerechnet im konservativen, Johnson-treuen Telegraph verdeutlichte der Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn am Freitag, einen Tag vor seiner endgültigen Ruhestandsversetzung, seine zukünftigen Prioritäten: Er werde auch weiterhin "für jene Werte kämpfen, die mir am Herzen liegen".

Und er wolle auch die mehr als eine halbe Million Mitglieder dazu ermutigen, sagte der Altlinke. Von der in Großbritannien eigentlich üblichen Loyalität gegenüber seinem Nachfolger war nicht die Rede: "Man muss sich immer treu bleiben." Indirekt gab der 70-Jährige damit zu erkennen, mit welchem Ergebnis er selbst wie der Rest des Landes an diesem Samstag rechnet. Wenn nicht alle Anzeichen täuschen, wird aus der Urwahl durch die Mitglieder nicht die Corbyn-Getreue Rebecca Long-Bailey als Siegerin hervorgehen.

Corbyns schweres Erbe

Alle Umfragen sahen die Kandidatin der linken Parteiführung klar hinter dem gemäßigten Brexit-Sprecher Keir Starmer und der Außenseiterin Lisa Nandy.Zu Corbyns Erbe gehört die größte politische Partei Westeuropas: Nach seinem völlig überraschenden Sieg 2015 traten Hunderttausende in die alte Arbeiterpartei ein, die zuvor zum zweiten Mal in Folge die Unterhauswahl verloren hatte.

Was folgte, waren ein erheblicher Linksruck, die strategische Besetzung der Parteigremien durch altgediente Sozialisten – und zwei weitere Wahlniederlagen. Gegen Premierministerin Theresa May, die sich als verheerend schlechte Wahlkämpferin präsentierte, gelang Corbyn wenigstens noch ein Achtungserfolg. In der vergangenen Dezemberwahl aber dezimierten die Briten die Labour-Fraktion im Unterhaus auf den niedrigsten Stand seit 1935.

Im Ausscheidungskampf der Parlamentarier und zuletzt im Schaulaufen des Trios auf Parteiversammlungen buhlten Long-Bailey, Nandy und Starmer naturgemäß um die Gunst ihrer Wählerschaft, also der Mitglieder sowie jener Sympathisanten, die sich mittels einer Spende von 25 Pfund (28,5 Euro) das Wahlrecht erkauft hatten. Rückschlüsse auf die zukünftige Ausrichtung der Partei ließen die Auftritte nur sehr bedingt zu, in den letzten Wochen verbannte das Coronavirus die Auftritte zudem ins Internet.

Die Sozialdemokratisierung der konservativen Regierungspartei unter Premier Boris Johnson hat viele Labour-Ideen bestätigt; gefragt sind vor allem Glaubwürdigkeit und Kompetenz, um bei den Briten nach vier Niederlagen in Folge wieder Fuß zu fassen.Das Ergebnis der Urwahl wird am Samstag nicht auf einem Parteitag, sondern ganz profan per Videoschaltung bekanntgegeben. Die beiden Frauen und der eine Mann mussten vorab eine Siegesrede aufnehmen. Abgespielt werden dürfte Starmers Ansprache. Der Spitzenjurist und versierte Menschenrechtsanwalt (57) strahlt Zuverlässigkeit und Kompetenz aus – zum mitreißenden Redner wird es der Londoner allerdings kaum noch bringen. In vielen hundert Telefonaten mit Parteianhängern, berichtet eine Starmer-treue Aktivistin, habe sie immer wieder zu hören bekommen: "Mein Verstand sagt Starmer, aber mein Herz schlägt für Nandy."

Personalentscheidungen

Die charismatische Abgeordnete für die nordenglische Industriestadt Wigan wird, so die Absprache des Trios, Starmers Schattenkabinett ebenso angehören wie Long-Bailey, die das Label der schlechten Corbyn-Kopie nie ganz loswurde. Zentrale Posten aber will Starmer dem Vernehmen nach erfahrenen Vertretern der Parteimitte anvertrauen: So soll der frühere Staatssekretär und entschlossene Immigranten-Fürsprecher David Lammy innenpolitischer Sprecher werden, das zen¬trale Amt der Schattenfinanzministerin wird wohl die Ökonomin Rachel Reeves übernehmen.Als beinahe noch wichtiger gilt unter Insidern Starmers Zugriff auf die Partei. Als Symbolfiguren für die ideologische Verbohrtheit und schiere Inkompetenz der letzten Jahre dürften Generalsekretärin Jenny Formby und Corbyns Büroleiterin Karie Murphy ihre Posten einbüßen. (Sebastian Borger, 3.4.2020)