Im Gastkommentar tritt der Gesundheitsökonom Ernest G. Pichlbauer dafür ein, der Arbeit der Epidemiologen mehr Vertrauen zu schenken.

Die Aufgabe der Epidemiologen ist leicht zu verstehen. Sie fragen sich, wer hat welche Krankheit, seit wann, woher und mit welchem Verlauf?

Wären alle Daten in Ist-Zeit zugänglich, wäre die Aufgabe leicht – doch das ist nie der Fall. Also müssen die Epidemiologen zuerst Krankheitsmodelle entwerfen, die sich aus Risikofaktoren zusammensetzen, die müssen sie wiederum mit sozioökonomischen, kulturellen und demografischen Daten verknüpfen und so zusammenzubringen, dass selbst widersprüchliche Annahmen ein schlüssiges Bild ergeben. Und da ist bei einer Pandemie durch einen neuartigen Erreger, die sich explosionsartig ausbreitet, Können angesagt.

Tests bringen Daten, und die weisen den Weg aus der Corona-Krise.
Foto: AFP / Loic Venance

Messbare Ergebnisse

Im Fall von Covid-19 wissen Epidemiologen wenigstens schon mal ein paar Risikofaktoren, die den Verlauf bestimmen: Alter, chronische Krankheiten, Einnahme von immunsuppressiven Medikamenten, Body-Mass-Index. Wie die alle zueinander und miteinander stehen, ist noch nicht klar. Wie infektiös das Virus ist, ist auch noch unsicher, genauso wie der zeitliche Verlauf. Welche Übertragungswege bestehen, ist ebenso nicht restlos geklärt. Und doch modellieren Epidemiologen daraus etwas. Und was dabei nicht vergessen werden darf: Ein Modell, das in China passt, muss nicht in Österreich passen. Diese Modelle müssen die Vergangenheit erklären – und erst dann sind Prognosen möglich. Und wenn präventive Maßnahmen abgeleitet werden sollen, wie etwa Masken oder nicht, Schulen offen oder nicht, müssen die Parameter so gewählt sein, dass sie beeinflussbar und leicht messbar sind, um Erfolg oder Misserfolg rasch beobachten zu können.

All das bedeutet aus extrem wenigen und unsicheren Daten, extrem viel und akkurat herauszulesen. Aber klar ist, selbst die besten Epidemiologen brauchen Daten, so viele wie möglich.

Kritische Infrastruktur

Die Modelle erlauben Strategien. Dass wir bei Covid-19 eine Strategie verfolgen müssen, liegt daran, dass Covid-19-Patienten eine so schwere Lungenentzündung haben können, dass sie von selbst zu schwach sind, um zu atmen, und daher beatmet werden müssen. Der limitierende Faktor ist daher die Zahl der Beatmungsgeräte! Je mehr, desto besser! Und wir haben aktuell, wenn man den Daten glaubt, 3.500 nachdem am 26. März 900 genannt wurden – eine mysteriöse Vervierfachung dieser kritischen Infrastruktur.

Nehmen wir an, Patienten werden im Schnitt fünf Tage beatmet. Drei Prozent der Infizierten (die vulnerable Gruppe) werden das brauchen – und angenommen, es steckten sich 50 Prozent der Bevölkerung an, um Herdenimmunität zu erreichen – so sind 130.000 Patienten zu erwarten – damit müssen wir, um mit den Geräten auszukommen, die Versorgung auf acht Monate verteilen.

Deshalb das Motto: Flatten the curve! Aber wie flach will das unsere Regierung und warum? Anfangs hat diese eine gute Figur gemacht. Wenigstens auf der Kommunikationsebene. Und ich ging davon aus, dass im Hintergrund Epidemiologen arbeiten, um herauszufinden, mit welcher Strategie wir diese drei Prozent der Bevölkerung schützen, damit ihre Versorgung auf acht Monate hinausgezögert werden kann.

Mangelnde Transparenz

Es gab dann so einiges, woraufhin ich zu zweifeln begann. Das Wichtigste war dieser Datensalat am 26. März. Offenbar haben wir es nicht einmal geschafft, aktuelle Zahlen für Hospitalisierung und Intensivbehandlung zu erhalten. Und offenbar wurde und wird bei keinem Covid-19-Test irgendein epidemiologisch relevanter Wert erhoben, ja noch nicht einmal bei den hospitalisierten oder beatmeten Patienten. Wie sollen Epidemiologen da rechnen? Auffällig war auch der einfache Zugang.

Warum auch immer, die Transparenz ist immer noch österreichisch, wurde festgelegt, dass nur 10.000 bis 15.000 aktiv krank sein sollen, womit die Zahl der Neuerkrankungen auf höchstens 1.000 limitiert wurde. Und diese Zahl war die "heilige Kuh" – das anzustrebende Ziel, dem alles dienen müsse. Wir flachen die Kurve also soweit ab, dass nicht mehr als 1.000 Neuerkrankungen auftreten – als globale Zahl, gemessen an den positiven Tests – keine weitere Konkretisierung!

Eine kleine Kopfrechnung: um eine natürliche Herdenimmunität – bis wir eine andere Therapie oder Impfung haben, die einzige Chance! – zu erreichen, müssen vier bis fünf (oder wenn die Zahl der Ages stimmt, dann sogar sieben) Millionen Österreicher Covid-19 durchgemacht haben. Sagen wir, wir machen alles, dass es 1.000 Neuinfizierte pro Tag gibt, und erreichen die Herdenimmunität schon bei vier Millionen Einwohnern, müssen wir für die nächsten elf Jahre so weitermachen. Keine Schulen, keine Unis, keine Arbeiten, die weniger als einen Meter Abstand erfordern, keine Besuche in Altersheimen, keine planbaren Operationen – ein Lockdown für elf Jahre!

Plötzlich der R0-Wert

Und dann kam die Pressekonferenz vom 30. März. Angeblich gibt es ja – und ich habe immer auf ihn gehofft – einen Krisenstab, in dem eben die gescheiten Köpfe, also die Epidemiologen, sitzen und die Regierung beraten. Und auf Basis dieser Beratung dachte ich, hat die Regierung, wie alle anderen auch, etwa die Wortwahl "Abflachung der Kurve", "prozentueller Zuwachs bei Infektionen", "Verdoppelungsraten" verwendet.

Und dann plötzlich der R0-Wert. Ich war von den Socken! Keine andere Regierung verwendet diesen Wert, weil er kompliziert ist. Also, warum? Und dann habe ich mich an ein "Expertenpapier" von einigen Mathematikern vom 29. März erinnert, das es auf ORF.at geschafft hat. Und da steht: "Für eine Epidemie ist die alles entscheidende Größe der Replikationsfaktor R0. [….] Wenn es nicht gelingt, rasch den Faktor R0 unter den Wert von 1 zu drücken, sind in Österreich zehntausende zusätzliche Tote und ein Zusammenbruch des Gesundheitssystems zu erwarten."

Externe Zurufe

Keine Empfehlung des Krisenstabes, nein ein Zuruf von außen, der von "Experten" stammt, die keine Epidemiologen sind, am augenscheinlichsten erkennbar, dass sie R0 Replikationsfaktor (ein Begriff aus der Genetik) und nicht Basis-Reproduktionsfaktor nennen. Und doch übernimmt der Bundeskanzler dieses Expertenpapier als Grundlage seiner Pressekonferenz, in der Angst verbreitet wird.

Kanzler Kurz Freitagnachmittag mit Mund-Nasen-Schutz.
Foto: EPA / Christian Bruna

Und als ob das nicht reichte, dann noch die Maskenpflicht im Supermarkt. Woher kommt die? Am 26. März hat auf ORF.at ein anderer Mathematiker (und später auch in einem Gastkommentar an dieser Stelle) gesagt: "Was wir in Österreich unbedingt brauchen, ist eine Maskenpflicht. Vor allem in Supermärkten, dort stecken sich die Leute an". Eine Maskenpflicht soll die Infektionen um 75 bis 90 Prozent reduzieren (so zumindest zitiert das ein Journalist auf Twitter). Da wird eine Empfehlung eines Mathematikers, der offenbar kein Epidemiologe ist und die Krankheit nicht versteht, praktisch wortwörtlich übernommen und vom Kanzler so umgesetzt! Ohne irgendeinen Beleg, ein Modell, eine Ahnung und epidemiologisch sicher falsch.

Das ist alles sehr beängstigend. (Ernest G. Pichlbauer, 4.4.2020)