Wie lange das Corona-bedingte Homeschooling noch dauern soll, will der Bildungsminister erst nach Ostern verkünden. Im Gastkommentar wünscht sich Bildungsexperte Karl Heinz Gruber einen ministeriellen Zugang mit mehr Kreativität, Flexibilität und Sensibilität.

Illustration: Felix Grütsch

Niemand hat von Bildungsminister Heinz Faßmann erwartet, dass er, wie Winston Churchill 1940, eine "Blut, Schweiß und Tränen"-Rede halten würde, aber weder seine erste Ankündigung der Verschiebung der Zentralmatura auf Mitte Mai noch seine jüngste Infragestellung dieses offensichtlich voreilig festgelegten Termins werden der Tragik und den weitreichenden schulischen Konsequenzen der Covid-19-Krise gerecht. Es wäre dem Herrn Minister keine Zacke aus der Corona gefallen (na ja), wenn er sich wie sein Gesundheitsministerkollege Rudolf Anschober über mutmaßliche Verläufe der Corona-Pandemie kundig gemacht hätte. Epidemiologen und Virologen erwarten den "Peak" der Infektionsausbreitung zwischen Mitte April und Mitte Mai, also in jenem Zeitraum, in den Faßmann den neuen Maturatermin verlegt hat. Dem Ministerium müsste schön langsam dämmern, dass angesichts der katastrophalen Ausmaße und der Unvoraussagbarkeit der Corona-Krise die herkömmlichen bürokratischen Instrumentarien nichts mehr taugen, sondern dass es Kreativität, Flexibilität und Sensibilität braucht. Die von Faßmann als cleverer Schachzug angekündigte Umreihung der Fächer der schriftlichen Matura ist eine rührende Demonstration dessen, was man im Englischen "rearranging the deckchairs on the Titanic" nennt.

Plausible Szenarien

Wenn die auf "reibungslose" Routinen fixierten alten Juristen und die pädagogisch unbedarften jungen türkisen Message-Kontrolleure im Bildungsministerium mit der Entwicklung plausibler Szenarien überfordert sind, sollte der Minister schleunigst eine Taskforce aus schulnahen Bildungsexperten damit beauftragen, realistische Wenn-dann-Szenarien und davon ableitbare Handlungsoptionen zu entwickeln, an denen sich die Lehrerschaft, die Schüler und die Eltern orientieren können.

Mit dem wiederholt geforderten "stufenweisen Hochfahren" des Schulbetriebs "nach Ostern" dürfte es höchstwahrscheinlich nichts werden. Ein von immer mehr europäischen Bildungsministerien erwogenes Szenario ist die Wiederöffnung der Schulen "wenn möglich" mit dem neuen Schuljahr im Herbst, und es dürfte lange dauern, die Corona-bedingten Lernausfälle zu kompensieren; selbst in Schweden, das bis jetzt mit drastischen Maßnahmen auffallend zurückhaltend umgeht, gelten die schulischen Covid-19-Notstandsregeln vorläufig bis 30. Juni, aber nicht 2020 sondern 2021!

Übliche Rituale

Das vordringlichste Problem ist offensichtlich, von der heurigen Matura zu retten, was zu retten ist. Die Doppelfunktion der "Reifeprüfung", der Nachweis des Erwerbs einer gehobenen Allgemein- beziehungsweise Berufsbildung und die Zuerkennung der Studierfähigkeit, lässt sich auch ohne die üblichen Rituale der schriftlichen und mündlichen Prüfung realisieren. Hier braucht es echte pädagogische Professionalität und verantwortungsvolles Improvisieren. Es klingt ein bisschen steinzeitlich, aber gibt es im Archiv des Ministeriums noch Unterlagen über die "Kriegsmatura" des Jahres 1945? Und welche generalisierbaren Ausnahmeverfahren für erkrankte Schüler hat man bisher praktiziert?

Am plausibelsten erscheint es allerdings, heuer auf die Fiktion der nationalen Standardisierung zu verzichten und die Matura samt Oberstufenabschluss schulautonom auf der Basis der kumulierten Schulleistungen der letzten beiden Oberstufenjahre zu erteilen; man könnte sich dabei an den relevanten Kapiteln der Abiturregeln der Kultusministerkonferenz der deutschen Bundesländer orientieren. Es scheint ohnedies dringend geboten, zu erkunden, wie man in Deutschland mit einer ähnlichen Schultradition wie der österreichischen das "Corona-Abitur" angeht.

Und wer ist verantwortlich?

Es entbehrt nicht einer gewissen makabren Ironie, dass die Corona-Krise die pädagogische Unangemessenheit einer der großen Errungenschaften von Heinz Faßmann als Minister der türkis-blauen Vorgängerregierung, die Wiedereinführung der Ziffernnoten und das Sitzenbleiben ab der zweiten Volksschulklasse, drastisch vor Augen führt.

Wer ist am Ende des heurigen Schuljahrs für nicht erreichte Lernziele verantwortlich? Der "faule" Schüler, der sich nicht um die in der Schule abzuholenden Arbeitsblätter, sondern um sein Skateboard kümmert? Die Notebook-lose Familie? Eltern, die seit zwanzig Jahren keine Dezimalzahlen multipliziert haben? Die Schulen, die in den vergangenen zwei Wochen etliche ihrer Kinder aus bildungsfernen Familien "verloren" haben? Kann man heuer einem einzigen Volksschulkind einen Fünfer geben oder erzwingen, die außerordentlichen Umstände nicht für alle Kinder eine sensible verbale Beurteilung?

Zum Abschluss noch einen ermunternden Arbeitsauftrag für erschöpfte Schüler (und Eltern), nachdem sie die von den Englischlehrerinnen zugemailten Hausaufgaben erledigt haben. Die Londoner Times veröffentlicht seit Jahrzehnten alljährlich jenen Leserbrief, in dem jemand meldet, dass er oder sie den ersten Kuckuck der Saison gehört hat. Vor etlichen Jahren erhielt die Redaktion folgenden Brief: "Sir, today I heard, saw, shot, cooked and ate the first cuckoo." Unterstreiche die regelmäßigen Verben grün, die unregelmäßigen rot – and stay careful, cheerful and healthy! (Karl Heinz Gruber, 5.4.2020)