Gleichberechtigung duldet keinen Aufschub, so Feministinnen auch beim diesjährigen Frauentag am 8. März.

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Okay, ich habe mich geirrt. Stoppt die Pressen, haltet die Uhren an: Das mit der Gleichberechtigung ist doch ganz anders, als ich mir das gedacht hatte.

Bislang bin ich immer davon ausgegangen, dass Krisensituationen gegen Gleichberechtigung sprechen. In der Bankenkrise von 2008 zum Beispiel, wo wir über Monate nur über Geld geredet haben anstatt darüber, wie wir unser Zusammenleben gestalten können. Oder in der Krise der europäischen Solidarität mit Menschen, die auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung und wirtschaftlichen Unwägbarkeiten eine neue Heimat suchen. Jedes Mal haben Gleichberechtigungsbemühungen schwere Rückschläge hinnehmen müssen.

Gleichberechtigte Strukturen als Vorrat

Gleichberechtigung schien mir, um das alte Brecht-Wort vom Fressen, das vor der Moral kommt, zu bemühen, deutlich nach dem Fressen zu kommen. Und das Fressen wurde so rollenkonform und stereotyp organisiert wie nur irgend möglich. Wenn es hart auf hart kommt, bleibt sie zu Hause, und er geht arbeiten. Wenn es hart auf hart kommt, organisieren wir uns wieder wie in den 50ern. Er macht die Ansagen und bringt das Geld nach Hause, sie kümmert sich um Haus und Kinder und hält ihm ansonsten den Rücken frei. Nun ist es noch härter gekommen, und es zeigt sich, dass ich mich geirrt habe. Gleichberechtigung ist sehr viel essenzieller, als ich es mir je hätte vorstellen können. Es ist kein politisches Projekt, das nur in Zeiten Anwendung findet, die relativ problemfrei sind. Im Gegenteil. Monate und Jahre, in denen Gesellschaften einigermaßen unbeschadet und unbelastet von Krisen sind, sollten von ihnen genutzt werden, um gleichberechtigte Strukturen zu etablieren. Als Vorrat für schlechte Zeiten sozusagen. Denn offenbar sind klischeehafte Vorstellungen darüber, welche Rollen Frauen und Männer einzunehmen haben, die denkbar schlechteste Versicherung gegen den Katastrophenfall.

Die "Sie drinnen, er draußen"-Formel

Sie sind eine unzureichende Panzerung, die allenfalls gegen die Krisen wirkt, die sie selbst miterschaffen haben. Sie verhärten das Herz gegen Lügen, die von ihnen selbst in die Welt gesetzt wurden. Dass sie darüber hinaus keinerlei Schutz bieten, lässt sich in der andauernden Corona-Krise beobachten. Denn was ist jetzt? Plötzlich stellen wir fest, dass systemrelevante Arbeit hauptsächlich von Frauen geleistet wird – und das unter schlechten Bedingungen. Auf einmal bemerken wir, dass die Formel "Sie drinnen, er draußen" so nicht funktioniert. Was ist, wenn alle drinnen bleiben müssen, wenn kaum jemand mehr Geld verdienen kann? Was ist, wenn Leistungsfähigkeit und Gelderwerb keine Stützpfeiler der eigenen Identität mehr bilden können – einfach weil sie komplett fallen? Und was wäre eigentlich, wenn Seuchen in der Zukunft noch geschlechtsspezifischer zuschlagen als gegenwärtig Covid-19, das deutlich mehr Männer aggressiv befällt und tötet?

Mitten in feministischen Dystopien

Was täten wir, wenn 30 Prozent der weiblichen Bevölkerung ausgelöscht würden? Töten sich Männer dann gegenseitig im Kampf um die verbliebenen Frauen als Besitztümer, Reproduktionsmaschinen und Haushaltshilfen? Wer wissen will, wie das ungefähr aussehen könnte, dem sei an dieser Stelle einmal mehr der grandiose "Report der Magd" von Margaret Atwood empfohlen. Das ist keine Zukunftsmusik. Wir stecken bereits mittendrin in teilweise jahrzehntealten feministischen Dystopien. Anstatt uns darauf zu konzentrieren, bombensichere Gleichberechtigungsstrukturen einzuziehen, die uns vor den näher kommenden Einschlägen schützen könnten, laufen wir sehenden Auges in Katastrophen. Und Katastrophen sind es, darüber sollten wir uns nicht hinwegtäuschen. Es ist für Betroffene katastrophal, dass wir in Zeiten, in denen wir alle noch problemlos vor die Tür gehen konnten, nicht mehr gegen häusliche Gewalt unternommen haben. Was glauben Sie, was nun hinter geschlossenen Türen passiert?

Es ist katastrophal, dass Schwangerschaftsabbrüche nicht längst vollständig legalisiert sind und zur medizinischen Grundversorgung gehören. Und es ist katastrophal, dass wir Kümmern, Pflegen und Unterrichten immer noch großflächig geschlechtsspezifisch organisieren. Anstatt diese Dinge endlich als zivilisatorische Grundfähigkeiten zu begreifen, über die möglichst alle verfügen sollten. Das hat nichts mit Gleichmacherei, aber alles mit Gleichberechtigung zu tun.

Gut eingetragene Rüstungen

Die Tatsache, dass die meisten von uns Fahrradfahren und Schwimmen gelernt haben, heißt nicht, dass wir alle gleich sind. Es heißt vielmehr, dass wir als Individuen, die auf Basis einer gemeinsamen, unveräußerlichen Würde alle sehr unterschiedlich sind, ungemein davon profitieren, wenn wir uns bestimmte Fähigkeiten aneignen. Dazu gehört auch, dass wir füreinander einstehen können, wenn es erforderlich ist, und nicht an Aufgaben verzweifeln, weil wir diese verpflichtend dem anderen Geschlecht zugeschrieben haben. Aber es bleibt abzuwarten, welche Lehren wir aus der Corona-Krise ziehen werden. Bislang waren wir immer noch kurzsichtig genug, um zur falschen Rüstung zu greifen – einfach weil wir sie schon so lange eingetragen haben. Gleichberechtigung würde da sicher an einigen Stellen drücken und zwicken. Womöglich wäre sie einigen zu Beginn sogar unangenehm und schwer zu tragen. Aber was wir in ihrem Schutz erreichen könnten, wiegt all das auf. Mit Leichtigkeit. (Nils Pickert, 6.4.2020)