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Abstandhalten und das Tragen von Masken gehören auch in Belgien inzwischen zur neuen Normalität.

Foto: Reuters/Johanna Geron

Die internationale Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF), die einen Sitz in der EU-Hauptstadt Brüssel hat, führt ihre Einsätze normalerweise in den Kriegs- und Krisengebieten dieser Welt aus. Aber in Zeiten der Coronavirus-Pandemie ist in Europa nichts normal. Das betrifft im Schatten der Katastrophen in Italien und Frankreich vor allem das kleine Königreich Belgien – mit elf Millionen Einwohnern nur etwas größer als Österreich – und die benachbarten Niederlande. Die beiden Gründungsstaaten der EU, eingebettet zwischen Deutschland und Frankreich, gehören inzwischen zu den größten Sorgengebieten in Europa, was die Ausbreitung und die Sterblichkeit durch das Virus betrifft. Die belgischen Mitarbeiter von MFS sind daher seit Tagen intensiv damit beschäftigt, Covid-19-Erkrankte zu betreuen, insbesondere in den Altenheimen.

Vor allem dort zeichnet sich – ähnlich wie im nahen Elsass und Lothringen in Ostfrankreich – eine Tragödie ab. Noch sind die Spitäler gut in Betrieb, noch haben sie ausreichend Intensivbetten zur Verfügung, auch wenn Ärzte und Pflegerschaft zuletzt heftige Kritik an den Verantwortlichen übten, weil es zu wenig Schutzmaterial gibt. Die MSF-Helfer können mit ihren Erfahrungen mit Pest und Cholera dienen, sie instruieren ganze Pflegschaften, wie man sich im Umgang mit Infizierten schützt.

Am Samstag starben in Belgien binnen 24 Stunden 140 Menschen, fast so viele wie in Österreich insgesamt seit dem ersten Todesfall vor drei Wochen. Dabei ist die Zahl der Registrierten mit knapp 20.000 derzeit gar nicht so viel höher als hierzulande. Umso mehr forschen die Experten nach den Gründen der extrem hohen Mortalität. 1483 Tote bei 20.000 Infizierten, das seien Dimensionen wie in Spanien und Italien, fürchtet man bei MSF.

Strenge Maßnahmen

Das ist auch deshalb umso bemerkenswerter, als Belgien bereits zwei Tage vor Österreich sehr restriktive Maßnahmen im öffentlichen Leben gesetzt hat: Cafés, Geschäfte, Restaurants, Kinos, Sport- und Freizeiteinrichtungen sind seit drei Wochen zu. Die Bürger sollen nur für lebensnotwendige Erledigungen das Haus verlassen. Die "Flucht" in Zweitwohnsitze aufs Land ist verboten. Die Polizei geht streng gegen Zuwiderhandeln vor. Das Wirtschaftsleben steht still. Warum die Zahl der Toten dennoch so hoch ist, scheint ein Rätsel. Eine Erklärung liegt darin, dass man die Altenheime viel zu spät isoliert hat: 93 Prozent aller in Belgien mit Corona Gestorbenen sind älter als 65 Jahre, ein großer Teil in Altenheimen.

Ein anderer Grund dürfte eine hohe Dunkelziffer an Infizierten sein, die ein Vielfaches von 20.000 betragen soll. Ähnlich ist das auch in den Niederlanden nebenan, wo die Regierung ursprünglich auf strikte Maßnahmen verzichtete, die Schulen offen blieben und man auf die Eigenverantwortung der Bürger setzte. Diesen Kurs hat Premier Mark Rutte längst aufgegeben. Es gibt in den Niederlanden bei 18 Millionen Einwohnern mehr als 1500 Tote, nur ein geringer Unterschied zu den Krisengebieten im Süden Europas noch vor zwei Wochen. In beiden Ländern wird über die Ausweitung von Schutzmaßnahmen nachgedacht, etwa eine Maskenpflicht oder ein Ausgehverbote in besonders betroffenen Gebieten. Die Wende soll auch durch eine starke Ausweitung von Tests kommen. 40.000 bis 50.000 Tests täglich sei das Ziel, kündigte der belgische Finanzminister am Wochenende an. Damit werde man die Infektionen, die bereits leicht sinken, in den Griff kriegen. Dann soll das gesellschaftliche und vor allem wirtschaftliche Leben neu starten. (Thomas Mayer aus Brüssel, 5.4.2020)