Mathematiker, Virologen, Epidemiologen und viele mehr, ob im Expertenstab der Regierung oder von außerhalb, erklären gerade in mehr oder weniger komplexer Form die aktuelle Lage rund um die Corona-Krise und die mit gewisser Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Ereignisse. Der magische Parameter R0 (Basisreproduktionszahl) geistert herum und scheinbar jeder liest aus Statistiken und mathematischen Simulationen das heraus, was ihm gerade gefällt und trifft daraufhin Ableitungen für relevante Interventionen im Kampf gegen das Coronavirus. Von der Maskenpflicht und der Corona-App über Social Distancing und Durchseuchung bis zum Händewaschen und der neuentdeckten Hygiene reichen derartige Schlussfolgerungen. Der Gesundheitsökonom Ernest G. Pichlbauer liefert in seinem Kommentar der anderen im STANDARD eine kritische Betrachtung der aktuellen gesamtgesellschaftlichen Fuzzylogik.

Politiker, die auf Simulationen starren

Hätte man irgendjemandem vor zwei Jahren eine Zustandsbeschreibung der aktuellen Situation mit Masken und anderen Maßnahmen der Bundesregierung als Vorahnung geschildert, hätte man höchstwahrscheinlich in mildester Form ungläubige Blicke geerntet, so die vorsichtige mentale Simulation. Mit noch größerer Wahrscheinlichkeit wäre man einfach nur für dumm gehalten worden. Nun ist aber dieser Zustand Realität und nicht Science-Fiction. Expertisen und mathematische Funktionen bestimmen offensichtlich unseren Alltag.

"Wann dürfen wir nach draußen?", "Wie sollen sich Risikogruppen verhalten?" und "Wann darf die Wirtschaft wieder anlaufen?" lauten die momentanen Problemstellungen. Manchmal hat man das Gefühl in einem schlechten Film zu sein, doch dann folgt die unweigerliche Erkenntnis, dass dem nicht so ist. Wer sich aber mit Statistik und mathematischen Simulationen beschäftigt, weiß, dass die Auswahl der entscheidungsrelevanten Parameter einerseits und die davon abgeleitete Vorhersage sehr schwierig und immer mit einer nicht zu unterschätzenden Unschärfe verbunden ist. Daher ist man normalerweise mit Prognosen, die zu Eingriffen in unser soziales und wirtschaftliches Leben führen mehr als nur vorsichtig.

Foto: REUTERS/Leonhard Foeger

Fuzzylogik des Lebens

Wenn ein Computer etwas berechnet, arbeitet er logisch mit Verknüpfungen von 0 und 1 sowie mit präzisen Gleichungen und Algorithmen. Die heutige Wissenschaft basiert ebenso auf logischem Dualismus, das bedeutet Aussagen sind entweder wahr oder falsch und auch aus der kognitiven Psychologie wissen wir, dass unser Gehirn Grenzen konstruiert, wo oft keine sind. Für viele Sachverhalte in unserer komplexen Realität ist es aber unmöglich genaue Gleichungen zur Lösung anzugeben. Menschen können in komplexen Situationen "unscharf" reagieren. Bei der Fuzzylogik als "Unschärfelogik" gibt es nicht zwei Wahrheitswerte, sondern unendlich viele Graduierungen zwischen 0 und 1. Gerade bei schweren Krisen geht es nicht um ein lineares 0- und 1-Denken sondern um die Anwendung eines kybernetischen und holistischen Weltbildes.

Der österreichische Medientheoretiker Peter Weibel stellt in seinem Essay "Virus, Viralität, Virtualität: Der Globalisierung geht die Luft aus" im Kontext der aktuellen Coronavirus-Krise treffend fest, dass die Regierenden anscheinend keine Ahnung von Systemtheorien haben, denn sonst wüssten sie, dass ein System umso fragiler wird, je komplexer es ist. Weiters findet Weibel, dass das Virus die Lücken, die Mängel und die Defekte eines Systems sichtbar macht. So gesehen besteht die Ignoranz schon seit langer Zeit und ist nicht nur an einem Verantwortlichen festzumachen. Eines steht aber zweifelsfrei fest, nämlich dass die Corona-Pandemie zum Systemtest für unsere Gesellschaft und die damit verbundenen festgefahrenen Denkweisen und Lösungsansätze wird. (Daniel Witzeling, 8.4.2020)

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