Das erste Wochenende geht vorüber. Es hat noch was von "…dann mache ich mir es eben daheim gemütlich." Das kann ich ja zum Glück. Ich habe eine große Wohnung und damit ein Dach über dem Kopf, einen gefüllten Kühlschrank, Internet und Handy. Vieles erscheint mir surreal. Die letzten Tage in der Schule, als wir alle noch hektisch die Schulbücher bestellt haben. Als wir Übungen für die Schülerinnen und Schüler zusammengesucht haben. Der tatsächlich letzte Schultag am Freitag, als nicht einmal die Kinder im Ferienmodus waren. Die Verabschiedung von der Kollegschaft, auch beklemmend. Es erschien mir wie ein schlechter Film, bei dem ich sehnlichst auf den Abspann wartete.

Montagmorgen

Am Montag wache ich zur gewohnten Zeit auf, kurz nach halb sechs ohne Wecker. Am Vormittag melden sich die ersten Schülerinnen und Schüler:

"Mir ist fad zuhause. Darf ich morgen mit V. in die Schule kommen?"

"Warum dürfen wir nicht einmal in den Park gehen?"

"Alle meine Geschwister sind zuhause. Ich wünschte, ich wäre ein Einzelkind."

"Was genau muss ich heute machen?"

"Zählt das alles zur Note?"

"Frau Lehrerin? Nicht ihr Ernst? Das ist viel zu viel!"

"Mein Bruder hat gesagt, dass ich hässlich bin. Also muss ich hässlich sein."

"Ich mach jetzt die Hausübungen."

Lernen, nicht lernen, Langeweile, ins Freie zu gehen - der Lockdown ist für Schüler belastend.
Foto: APA/AFP/Lehtikuva/ANTTI AIMO-KOI

Montagabend

Am Abend sitze ich, wie so oft in diesen Tagen, vor dem Fernseher. Ich habe zu diesem Zeitpunkt noch nicht die gesunde Mischung aus wie viel Information vertrage ich, und wie viel nicht, heraußen. Im Fernsehen läuft "Thema", im Fokus Covid-19. Am Ende spricht eine klinische Psychologin über die neue häusliche Situation. Auch zwei Familien werden gezeigt und befragt, wie sie die kommenden Tage meistern werden. Die Wohnungen der beiden groß, hell und geräumig mit Balkon oder Garten. Eine männliche Person, die im Garten mit einem Kind lernt. Das andere Kind turnt auf einem Klettergerüst. Alle sind sich einig, das könnte schnell langweilig und fordernd zugleich werden.

"Was könnte man dagegen tun?", will die Reporterin wissen.

"Denken Sie sich immer neue Sachen aus. Schaffen sie neue Anreize. Kochen sie gemeinsam oder machen sie eine Schnitzeljagd durch die Wohnung. Oder schaffen sie eine Verkleidungsecke."

Die andere Realität

Ich schweife gedanklich ab.

Mir fällt K. ein. K. ist mit seinen elf Jahren der älteste von sieben Kindern. Vor drei Wochen kam das Jüngste zur Welt. Die Familie lebt in einer 45 Quadratmeter großen Wohnung. K. liebt es, die Zeit draußen zu verbringen. Ich stelle mir K.s Mutter vor, wie sie in der Küche steht und vermutlich alles andere will, als die Kinder in den Akt des Kochens einzubinden. Sie wird auch keine Schnitzeljagd machen oder eine Verkleidungsecke einrichten. Wo auch?

Ein anderer Junge lebt unter ähnlichen Verhältnissen. Der Vater arbeitet am Markt, die Mutter ist den ganzen Tag bei den Kindern. Die Hauptlast liegt bei ihr: Haushalt, Kindererziehung und sämtliche schulische Angelegenheiten. Und jetzt sollte sie noch mit den Kindern üben und lernen. Und eine Schnitzeljagd organisieren.

V. lebt bei seiner Großmutter. V. hat Probleme. In der Schule eckt er mit seiner nicht vorhandenen Anpassungsfähigkeit an. Er scheitert täglich am System Schule. Die Großmutter ist bemüht, aber stößt permanent an ihre Grenzen. V. hat bis heute keine einzige Aufgabe geschickt. Manchmal kommt mir der Gedanke, dass er vielleicht schon im Krisenzentrum lebt.

Die ganze erste Woche des Lockdowns kommen auf unterschiedlichen Kanälen mantraartig die gleichen Tipps, und immer werden Familien gezeigt, die nicht die Lebensrealität meiner Schülerinnen und Schüler abbilden. In den meisten Fällen macht der Vater nicht Homeoffice. Die Mutter macht eine Art Homeoffice, sprich, sie ist ohnehin zuhause. Meine Schulkinder haben zu 90 Prozent keine Laptops, kein W-Lan, keine Gärten und keine Eltern, die mit ihnen so nebenbei noch lernen. Nicht weil sie es nicht wollen, sondern weil sie es nicht können.

Die Verlierenden

Was meine Schülerinnen und Schüler haben? Sie haben Ängste. Angst, dass die Eltern ihre Arbeit verlieren. Sie haben Angst, dass ihren Eltern das Geld ausgeht. Sie haben Angst, genau das mit ihren Eltern zu besprechen. Sie merken, dass es zuhause eng wird, und wissen nicht, wie sie dieser Enge entfliehen sollen. Sie haben Angst, dass wenn sie doch nach draußen gehen, dass die Eltern Strafe zahlen müssen. Sie haben Angst, dass sie das Jahr nicht schaffen werden. Sie haben vermutlich nur wenig Kraft sich den Schulaufgaben zu widmen. Denn, bevor man sich mit Bildung und mit sich selbst beschäftigen kann, braucht man soziale Sicherheit. Diese ist in sehr vielen Fällen nicht gegeben. Gerade in diesen Familien bleibt kein Stein auf dem anderen.

Die Verlierer der Coronakrise sind wieder einmal die Schülerinnen und Schüler der Mittelschulen. Denn schon jetzt kündigt Bildungsminister Heinz Faßmann an, dass die höchste Priorität bei der Öffnung von Schulen der Matura gilt. (Monika H., 8.6.2020)

Monika H.* (Pseudonym, Name der Redaktion bekannt) ist 57 und unterrichtet an einer NMS in Wien.

Weitere Beiträge im Blog