Versorgungspakete von NGOs hängen auch in den Straßen von St. Petersburg.

Foto: Imago/Peter Kovalev

"Uns geht's gut, wir sitzen zu Hause", schreibt Oleg. Bis vor zwei Wochen hat der Vater dreier Kinder seinen Unterhalt als Trainer in einem Moskauer Fitnessklub verdient, doch der ist auf Anordnung der Stadtverwaltung geschlossen. Jetzt sitzt er daheim in der Satellitenstadt Schukowskoje.

Oleg ist kein Einzelfall. Allein in der russischen Hauptstadt sind 300.000 Menschen in dem Sektor beschäftigt – und nun größtenteils arbeitslos. Nikolaj Alexejenko, Generaldirektor der "Ratingagentur für den Bausektor", hat für diese Kategorie Arbeitnehmer einen speziellen Vorschlag: "Sollen sie doch auf den Bau gehen, sie haben ja gestählte Körper. Weil das zum Großteil ohnehin Einzelunternehmer sind, sollen sie Gräben ausheben oder Steine schleppen", riet Alexejenko. Auf dem Bau gebe es jetzt Bedarf, da die Gastarbeiter wegen der Corona-Krise zumeist in ihre Heimatländer gereist sind.

Ausgebeutete Migranten

Das Problem dabei: Die Arbeit, die die Migranten verrichteten, ist nicht nur schwer und mitunter gefährlich, sondern zumeist auch schlecht bezahlt. Oft in der rechtlichen Grauzone arbeitend, wurden sie von den Bauherren knallhart ausgebeutet. Kirgisen, Tadschiken und Usbeken, die das Gros der Bauarbeiter in Moskau stellten, verdienten einer Studie der Moskauer Higher School of Economics von 2018 zufolge zwischen 25.000 und 29.000 Rubel (etwa 290 bis 340 Euro) bei einer 60-Stunden-Woche. Keine verlockenden Aussichten für Oleg, auch wenn er zugibt, dass sich nun alle "umorientieren müssen".

Die negativen Folgen des von Präsident Wladimir Putin verhängten "arbeitsfreien" Aprils sind auch der Führung klar: "Tatsächlich ist das für das Wirtschaftsleben eine außerordentliche und enorme Belastung", räumte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow ein. Doch angesichts steigender Infiziertenzahlen schien es kaum eine Alternative zur (nichterklärten) Quarantäne zu geben. Für die Wirtschaft kommt es nun knüppeldick. Immerhin kämpft Russland schon schwer mit einem Verfall der Ölpreise.

BIP-Einbruch um acht Prozent

Der Chef des Rechnungshofs, der ehemalige Finanzminister Alexej Kudrin, rechnet mit einem Einbruch des BIP um acht Prozent in diesem Jahr. Ob Kudrins Vergleich der russischen Wirtschaft mit einer "Dampflok, deren Kessel kurz vor der Explosion steht", passend ist, sei dahingestellt. Vielmehr scheint der Dampflok im Moment völlig der Treibstoff auszugehen. Öl und Kohle befeuern die Wirtschaft nicht, und der erzwungene Stillstand könnte bis zu drei Millionen Klein- und Mittelständler vor allem aus dem Dienstleistungssektor in den Bankrott treiben. Dadurch wiederum würde die Arbeitslosigkeit in die Höhe schnellen. "Tatsächlich könnten die negativen Folgen des Coronavirus und die Stilllegung der Aktivität bei einer Reihe von Betrieben zu einem gewissen Anstieg der Arbeitslosigkeit führen", meinte Zentralbankchefin Elvira Nabiullina euphemistisch.

Experten gehen davon aus, dass im Sommer die Arbeitslosigkeit von 4,4 auf über sechs Prozent steigen wird. Diese Zahl allein ist nicht aussagekräftig, denn Schätzungen zufolge gibt es zwischen 16 und 25 Millionen Selbstständige – Kleinhändler, Installateure oder Saisonarbeiter –, die von keiner Arbeitslosenstatistik erfasst werden. Ihnen droht bei ökonomischem Stillstand der Ruin. Zudem gibt es schon jetzt zahlreiche Beschwerden von Angestellten, die in unbezahlten Urlaub geschickt wurden – eine verbreitete Methode zur Einsparung von Gehältern, obwohl das Arbeitsministerium die Praxis Ende März für unzulässig erklärt hat.

Aufstockung der staatlichen Hilfe gefordert

Trotzdem lassen sich immer wieder Arbeitnehmer dazu drängen in der Hoffnung, nach dem Ende der Krise so schneller wieder Anstellung zu finden. Die soziale Absicherung im Fall von Arbeitsverlust ist ohnehin gering: Der Kreml hat wegen der Corona-Krise für Arbeitslosengeld umgerechnet 350 Millionen Euro, für Krankengeld 410 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Das reicht nicht für lang und nicht für viele.

Laut der Ratingagentur Akra werden die Realeinkommen der Russen daher um mehr als fünf Prozent fallen. Zum Vergleich: Insgesamt sind die Realeinkommen seit der Ukraine-Krise 2014 bereits um 7,5 Prozent gesunken. Der Großteil der Russen geht daher ohne Ersparnisse in die neue Krise. Im vergangenen Jahr lebten zwischen 17,6 und 20,9 Millionen Russen unterhalb der Armutsgrenze. Ein Einbruch der Realeinkommen würde weitere Millionen in die Armut schicken. Experten fordern daher eine deutliche Aufstockung der staatlichen Hilfsprogramme, sowohl für die Wirtschaft als auch für die soziale Absicherung. Bisher ist das von Premier Michail Mischustin geschnürte Paket deutlich kleiner als das westlicher Regierungen. Nicht nur in absoluten Zahlen, sondern auch prozentuell. Die Hilfsmaßnahmen machen derzeit lediglich 1,2 Prozent des russischen BIP aus. (André Ballin aus Moskau, 7.4.2020)