Warum man so was tut? Falsche Frage. Und gleichzeitig auch die einzig richtige. Wobei die Antwort darauf eh die gleiche ist – und wohl bei jedem und jeder anders ausfällt. Von "Weil ich es kann" über "Weil es Spaß macht" reicht das Antwortspektrum bis zu "Weil es den Abstand zwischen Scheitel und Plafond wieder erhöht". Aber ich habe noch eine: "Keine Ahnung, das hat sich unterwegs halt so ergeben."

Auch wenn das seltsam klingt: Dieser Marathon war tatsächlich nicht geplant. Er ist mir einfach passiert – und das war gut so.

Foto: thomas rottenberg

Aber der Reihe nach. Am Wochenende einen längeren Lauf zu machen ist in meiner Welt normal. Sogenannte "Longruns" rennt man nicht im Wettkampf-, sondern im Grundlagentempo. Also langsam. Richtig langsam. Und "lang" ist so relativ wie subjektiv: Wer für seinen ersten Halbmarathon, oder auch den ersten Zehner, trainiert, für den ist mitunter ein 15er oder ein 7-Kilometer-Lauf richtig lang. Und für einen Ultraläufer (also die netten Spinner, die zum Beispiel bei "Wien Rundumadum" mitmachen) ist eine Marathondistanz gerade eine Aufwärmrunde.

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Genau das ist ja das Feine am Laufen: Jeder und jede kann, darf und soll nach eigener Façon glücklich werden.

Longruns sind normalerweise ideal, um in der Gruppe unterwegs zu sein: Man läuft im Plaudertempo. Und im Rudel ist man weniger anfällig für das unvermeidliche "Oida, warum mach ich das? Am Sonntag reicht vom Bett zum Bäcker und zurück vollkommen!", das irgendwann kommt, wenn es "zaach" wird. Doch just um "zaach" geht es: darum, nicht nur nach, sondern über "zaach" hinaus zu laufen. Dem Körper zu zeigen, dass das geht. Dass die Komfortzone nicht alles ist, was man draufhat.

Das momentane Problem an der Sache: Laufen ist (derzeit) zwar (fast überall) erlaubt – aber eben nur alleine.

Foto: thomas rottenberg

Bei mir standen am Sonntag 28 Kilometer auf dem Plan. Ganz locker. Plus eventuell ein "Bonustrack": Ob ich vielleicht am Abend noch eine zweite Runde drauflegen wollte, hatte Harald gefragt. 10, 12 oder 14k. "Trainingstechnisch und sportwissenschaftlich ist das absolut sinnfrei. Aber es geht ja um nix: Es gibt keine Wettkämpfe, auf die man gezielt hintrainieren kann. Ein paar Vereinskollegen wären am Sonntag in Linz angetreten (Halbmarathon und Marathon). Ein paar beim Halbmarathon in Berlin. Einige … und so weiter. "Aber wenn es dir keinen Spaß macht: Lass es – oder renn einfach kürzer."

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Bei mir wären in den nächsten Wochen unter anderem der Sorger-Halbmarathon in Graz, der Welschlauf und der VCM auf dem Plan gestanden. Für die Ironman-Halbdistanz in Graz hatte ich mich auch irgendwann angemeldet … und so weiter: Ist halt nicht – und das sind die geringsten Probleme, die die Welt derzeit hat.

Und auch wenn kein Hobbysportler, keine Freizeitathletin nur trainiert, um bei Wettkämpfen anzutreten, stecken etliche Läuferinnen und Läufer gerade sehr tief im Motivationsloch. Eine Ansage hört und liest man zurzeit immer wieder: "Wozu renn ich dann eigentlich? Warum hab ich ein halbes Jahr trainiert?"

Dass es in Wirklichkeit nicht darum geht, weiß eh jeder. Geschenkt.

Aber: Der Mensch braucht Ziele.

Foto: thomas rottenberg

Deshalb hier ein kleiner Einschub: Vielleicht ist Ihnen auf den Bildern zuvor die Startnummer aufgefallen. Die ist natürlich sinnlos: Es gibt derzeit keine Wettkämpfe. Keine echten. Aber in der Corona-Krise schlägt gerade die Stunde der virtuellen Rennen. Weltweit. Ganz unterschiedlich. Ein paar habe ich letzte Woche angerissen. Aber es gibt viel, viel mehr. Die US-Laufplattform "Run Signup" hat – leider nur für die USA, obwohl das ja eigentlich wurscht ist – eine eigene Plattform für V-Läufe eingerichtet, auf "Achilles-Running" gibt es etliche Laufchallenges in Deutschland, und mit der Wings-For-Life-App sind ja auch schon bisher Leute, die keinen Startplatz beim WFL-Worldrun mehr bekamen, "virtuell", aber eben doch auch wirklich gelaufen. Das geht auch jetzt. Und auch die Ironman-Gruppe "goes VR". Oder Austro-Veranstalter wie etwa Stefan Leitner mit seinem Aloha-Spring-Run.

Foto: Screenshot

Meine Startnummer war eine ganz andere: Ofer Padan, der Organisator meines absoluten Laufhighlights des Vorjahres, des "Eilat Desert Marathons", und Veranstalter von Läufen wie dem Jerusalem-Marathon, leistet mit "We run everywhere" seinen Beitrag zum virtuellen weltweiten Laufen. Kostenlos – aber nicht umsonst.

Ich mag Ofer. Nicht zuletzt wegen seines Traums, dass bei Läufen in Israel endlich nicht nur Menschen aus der ganzen, weiten Welt, sondern auch aus den Nachbarstaaten mitlaufen können. Also druckte ich mir eine Startnummer "seines" Laufes aus und hängte sie mir um.

Pathetisch? Vielleicht. Na und?

Foto: thomas rottenberg

Ich wurde unterwegs auf die Nummer angesprochen. Immer wieder. Von Nordic Walkern, Spaziergängerinnen, Radfahrern und – eh klar – auch Läuferinnen und Läufern (im Bild: Vater, Mutter und Tochter – also absolut legal. Aber ohne zu fragen, zeige ich keine erkennbaren Gesichter). Und nach dem ersten Staunen und Schmunzeln verstand jeder die Idee: Natürlich braucht kein Mensch eine Startnummer, um von Wien-Margareten durch das Wienflussbecken in den Lainzer Tiergarten zu laufen.

Schon gar nicht, wenn man ein Solo rennt. Aber gerade in einer Zeit wie jetzt macht es eben dann doch einen Unterschied zu wissen, dass man nicht so alleine ist, wie es aussieht. Oder wie es sich manchmal anfühlt.

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Der Lauf selbst? Easy: Ich hatte Sehnsucht nach Wald. Gleichzeitig aber keine Lust, bei einem immer möglichen Trail-Verknackser dann irgendwo im Wienerwald am Boden zu liegen und mich (im schlimmsten Fall) bergen lassen zu müssen. Das ist derzeit schlicht ein No-Go.

Der Lainzer Tiergarten ist da ein guter Kompromiss: Außen rum ist zwar spannender, aber eben "ungesichert". Drin jedoch sind die Wege teils asphaltiert oder für Forst- und Schotterwege immer in einem Top-Zustand.

Mit einem verknacksten Knöchel käme ich hier allerweil noch aus eigener Kraft zum nächsten Tor und Öffi.

Weil ich aber den Wientalweg kenne (keine Trinkbrunnen) und (zu Recht) annahm, dass die wenigen Wasserstellen im Tiergarten zu sein würden, griff ich zum Trail-Rucksack: Zwei Halbliter-Softflaschen mit Wasser. Ersatzleiberl, Handy, ein Riegel und ein Notgel stören dann auch nicht: Sie wiegen nix.

Foto: thomas rottenberg

Ich war de facto nüchtern losgelaufen: Zwei Espressi und eine halbe Banane. Das würde ich nicht unbedingt empfehlen, aber da funktioniert wirklich jeder anders. Ich weiß, dass ich bis zur Halbmarathondistanz bei Nichthitze und Nichtrenntempo normalerweise weder etwas zu essen noch zu trinken brauche.

Alles, was länger ist, sieht dann aber anders aus. 28k? Ein bissi Wasser – und ein Riegel.

Ein Marathon ist aber ganz was anderes: Auf den bereitet man sich vor. Trainiert gezielt auf diese Distanz an diesem Tag hin. Isst auch zumindest an den Tagen davor mit System. Frühstückt strategisch – und hat einen Plan für unterwegs.

Ich hatte nichts davon: Die Idee, den 42er vielleicht als Ganzes zu rennen, kam mir das erste Mal bei der (leider und verständlicherweise gesperrten) Hubertuswarte. Etwa bei Kilometer 17 – also weit nach der Hälfte der geplanten Maximaldistanz.

Foto: thomas rottenberg

So wirklich sicher war ich mir ohnehin nicht. Also vertrödelte ich beim "Wiener Blick" noch eine Menge Zeit mit Dingen, die man eher nicht macht, wenn man vorhat, noch 25 Kilometer zu rennen: Ein Kopfstand (Bild 1) ist zwar gut, um die komplett verkehrte Welt in der eigenen Wahrnehmung ein bisserl zu relativieren. Danach einen Hügel runterzurennen ist aber nicht immer wirklich super für die Oberschenkel: Wenn es da ein bisserl ziept und krampft, rennt man bei einer Halbdistanz einfach drüber – bei der vollen lässt man solches Geblödel aber normalerweise besser aus.

Foto: thomas rottenberg

Egal. Denn derzeit ist nix wirklich normal. Normalerweise sitzen auf der Mauer des Tiergartens ja auch keine Menschen, die die Stadt anmeditieren.

42 bedeutete, dass ich meine Route umplanen musste: Von daheim nach Lainz und wieder nach daheim wären solide 28 Kilometer gewesen. Mit der vom Bürgermeister halblegal-genehmigten Option, im Null-Bock-Fall die U-Bahn zu verwenden, um aus dem Grünen zurück in die Stadt zu fahren.

Ich kenne mich: Nach 28 Kilometern zu Hause vorbeilaufen und dann noch ohne Not einen 14er dranhängen? Das passiert nicht. Auf eine zweite 600-Höhenmeter-Hügelrunde durch den Tiergarten hatte ich aber auch keine Lust. Plan B: noch eine halbe Runde zum Pulverstampftor – und dann zurück.

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Beim Nikolaitor, von da geht es in der Regel zurück nach Hause, liefen mir Jürgen, Samantha und Elisabeth über den Weg: Elisabeth ist drei. Ihre Eltern sind mehr als nur gute Läufer. Ich kenne sie so, wie man Menschen, denen man in der Stadt beim Laufen immer wieder begegnet, halt kennt: vom flüchtigen Zunicken und zwei, drei gewechselten Worten.

Wir hatten den gleichen Weg – und davon, dass man bei mindestens zwei bis drei Metern Mindestabstand nicht doch kurz (und ungeplant) gemeinsam unterwegs sein darf, ist nirgendwo die Rede.

Und: Ja, das tat gut. Sehr gut. Erst als ich wieder alleine war, merkte ich, dass genau das passiert war, was in einer Gruppe oft passiert: Ich war schneller geworden. Deutlich schneller.

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Ich wusste: Dafür würde ich jetzt bezahlen. Nicht, weil es wirklich zu schnell gewesen war, sondern vielmehr, weil ich den nun schon gewohnten Rhythmus durchbrochen hatte. Das kann und soll man zwar trainieren – aber ich bin eben nicht im Marathontraining.

Langsam spürte ich das. Auch das Nichtfrühstücken meldete sich. Nicht überraschend. Nicht böse, aber doch. Der Müsliregel? Eher nicht: Um den runterzuspülen, würde ich viel Wasser brauchen. Und das musste ich mir jetzt einteilen: Die Sonne war gut zu spüren. Eh fein, aber: Obacht.

Das Gel nahm ich dann bei k32: Langsam wurde es zaach.

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Jürgen hatte mich vor dem Wiental-"Highway" gewarnt: Als ich kurz nach acht in der Früh rausgelaufen war, war kaum was los gewesen. Als er mit Samantha und Elisabeth ein paar Stunden später hier durchkam, sei allerdings Stoßzeit gewesen.

Ich hatte auf dem Rückweg dann teils viel, teils null Verkehr. Aber auch die belebten Passagen waren okay. Wenn ich aus der Corona-Krise etwas Positives mitnehme, ist es das, was sich auch hier zeigte: Die Gesellschaft funktioniert. Man ist geduldiger. Verständnisvoller. Nicht alle, eh klar – ein paar ungute "Patienten" gibt es immer und überall. Ihre Stunts merkt man sich länger, und sie fallen jetzt noch mehr auf als sonst.

Aber in Summe funktioniert es. Auch hier: Man muss nicht jeden immer und sofort überholen. Man kann auch mal warten. Hinten bleiben. Sich schmal machen. Platz machen. Die eigene Ideallinie verlassen – damit auch andere leben können.

Und: Man kann lächeln. Grüßen. Freundlich sein.

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Bei Schönbrunn begann ich dann zu rechnen: Ich hatte 35 Kilometer auf dem Tacho. Von hier sind es beim VCM (zweiter Staffelteil) keine sechs Kilometer ins Halbmarathonziel beim Rathaus. Ich wohne etwa zwei Kilometer von dort, nahe der Wienzeile. Auf keinen Fall würde ich an meiner Wohnung vorbeilaufen und noch zwei Kilometer "offen" haben. Also noch einmal (leicht) bergauf: Der Auer-Welsbach-Park war knackevoll (Schönbrunn war/ist ja immer noch zu). Aber die Abstände gingen sich aus. Äußere, dann innere Mariahilfer Straße – und runter zur Secession.

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Den Naschmarkt renne ich mittlerweile mit geschlossenen Augen. Der Parkplatz dahinter wird, solange die Sportplätze und der Volksgarten geschlossen sind, demnächst wohl meine "Laufbahn": Vor ein paar Tagen sah ich hier schon ein paar Leute beim "Bahntraining": Brettleben – und eine 400-m-Runde lässt sich hier gut ausmessen. Aber das ist eine andere Geschichte.

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Auf der offiziell "Wientalsteg" genannten Plattform, die jeder "Freundschaftssteg" nennt, war dann Ziellinie und meine "Finisherzone".

Rund um mich saßen dutzende Menschen in der Sonne. Brav vereinzelt. Ein paar machten Gymnastik. Yoga. Plankchallenge. Läufer und Läuferinnen zogen vorbei. Alleine oder zu zweit – aber in Summe in Scharen.

"Wird Wien durch Corona eine Laufstadt, eine Sportstadt?", hatte Jürgen auf dem Weg zum Pulverstampftor gefragt. "Wenn ja, war vielleicht nicht alles ganz umsonst."

Ich saß, kam runter und sah mich um.

Und bemerkte jetzt, wo ich saß, den Unterschied im Vergleich zu sonst noch deutlicher als im Wiental und im Park: Die Menschen waren ruhig. Entspannt.

Wüsste man nicht, was gerade alles passiert, könnte man sagen:

Sie wirkten glücklich.

Auch wenn das nur für den Moment gilt: Das ist etwas wert. Das sollten wir behalten. Oder es zumindest versuchen.

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Nachtrag. Ein paar grundsätzliche Worte zu diesem Lauf:

Laufen, Sport und Frischlufttanken fällt in Wien und in den meisten Regionen Österreichs derzeit dezidiert unter die aktuell gültigen Ausnahmen der Corona-Verordnungen. Über die maximale Länge und Dauer der Aktivitäten finden sich in den Vorgaben keine Angaben. Man dürfe, heißt es von (sportmedizinischer) Seite, sich zwar durchaus fordern, aber keinesfalls die Kante geben. Also Grenzen weder ausloten noch sie überschreiten. Und es gilt, Situationen zu vermeiden, in denen man die Rettungs- und Gesundheitsinfrastrukur belasten könnte.

Ich habe bei diesem Lauf diese Regeln alle eingehalten. Und auch wenn das überheblich klingt: Ich weiß, wann ein Marathon sich für mich "kalt" – also ohne spezifisches Training und Vorbereitung – in einer Nicht-Wettkampf-Pace gut ausgeht. Ich bin erfahren genug, um diese Entscheidung unterwegs zu treffen – und gegebenenfalls auch zu revidieren.

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Ach ja, weil das auf Social Media dann auch als Frage kam: Ja, das "open window", also die erhöhte Infektionsgefahr nach einer (jeder) größeren Belastung, kenne ich. Aber es ist in diesem Fall kein Thema: Ich mache Homeoffice und lebe so wie viele andere Menschen in Quasi-Quarantäne. Bis Dienstag oder Mittwoch halte ich es auf dem Balkon und in der Wohnung gut aus. Mach was anderes. Oder nix.

Aber dann muss ich raus. Um den Mindest- und Sicherheitsabstand zwischen Schädeldecke und Plafond zu gewährleisten.

Der ist nämlich auch wichtig.

Bei mir – und den meisten anderen Menschen auch. (Tom Rottenberg, 7.4.2020)

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