Mächtig, unvergänglich und doch einsam liegt der See in seinem riesigen Bett, mal gülden-friedlich, dann wieder grantig die windigen Pausbacken blähend oder gläsern-grünblau in der Augustsonne schwitzend.

Foto: privat

Durch meine Adern fließt Seewasser. Nicht das irgendeiner Pfütze aus dem oberösterreichischen Seengebiet – ich spreche vom Bodensee. Schließe ich die Augen, steigt mir wie durch eine Zaubernase das Odeur seines Wassers ins Hirn. Ich sehe die Gischt, sich auf seinen Wellen kräuseln, weiß wie ein aufgepludertes Schneehuhn.

Meine Seeohren lauschen dem hysterischen Pfeifen des Sturmwindes in den Wanten der Segelschiffe ebenso wie dem glucksartigen Geplätscher der kleinen Wellen, die sich sanft vor- und zurückschieben, als würden sie sich zum morgendlichen Tai-Chi einfinden. Geht’s um den See, werde ich romantisch.

Auf meinem Schreibtisch steht ein Glas. Es ist gefüllt mit Glasscherben vom Ufer, grün, weiß, braun. Eine jede erzählt ihre Geschichte. Es sind Geschichten von Turteleien im Licht eines Scheinwerfers namens Mond, Geschichten von Einsamkeit, von Abschieden, vom Schauen ins See-Narrenkastl. Bevor ich die Scherben fand, wurden sie im Bauch des Sees rund und handzahm geschmirgelt, ehe er sie ans Ufer murmelte.

See-"Spinnerei"

Mein See ist nicht zu fassen. Er fasst mich. Mein See ist nichts Geschaffenes, nichts Starres. Mächtig, unvergänglich und doch einsam liegt er in seinem riesigen Bett, mal gülden-friedlich, dann wieder grantig die windigen Pausbacken blähend oder gläsern-grünblau in der Augustsonne schwitzend.

Mein alter See ist wesenlos und doch see-len-voll, egal, ob in einer Schilfbucht oder angesichts des steinernen Löwen, der den Hafen von Lindau bewacht. Rund um die Uhr, rund um die Zeit! Die Holzpfähle vor der Hafenmauer, die gleich maritimen, abgefaulten Zähnen aus dem Wasser wachsen, bezeugen das.

Vielleicht ist meine See-"Spinnerei" genetisch bedingt. Von meinem Großvater erzählt man am Stammtisch des Yachtclubs, er habe dem Teufel so manches Ohr abgesegelt. Denke ich an H. C. Artmanns "Donauweibchen", glaube ich fest daran, von einer "Bodenseenixe" verhext worden zu sein.

Außerdem werden Bregenzer "Seebrünzler" genannt, ein durch Geburtsrecht ererbter Titel. Droht mir während der Heimarbeit unweit des Wienflusses die Decke auf den Kopf zu fallen, schließe ich die Augen und stelle mir vor, über dieses Rinnsal bis hin zu meinem See zu schinakln. (Michael Hausenblas, RONDO, 10.4.2020)