Für eine spezielle Untergruppe von Romantikern läuft es jetzt richtig Bombe.

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Immer öfter stöhnen betroffene Freunde durchs Telefon: "Sie ist immer da." – "Er geht nie weg." – Ja, es nicht leicht in diesen Tagen, mit jemandem Tisch und Bett zu teilen. Hatte man bei seiner Partnerwahl jemals die Knastvariante eingeplant? Natürlich nicht.

Das zwischenmenschliche Optimum war doch schon in der Steinzeit: jagen und sammeln, jeder für sich; nicht wissen, ob der andere den Tag überlebt – weshalb man abends, in der Höhle, erschöpft, aber glücklich übereinander herfiel. Irgendwie so.

Auf jeden Fall ist das komplexe Nähe-Distanz-Ballett kein neuzeitlicher Egotrip: Selbst die schönste Paarbeziehung war schon immer als Kommen und Gehen gedacht, und jetzt das. – "Inzwischen kenne ich jedes einzelne Nasenhaar von Klaus persönlich!", textet der Nachbar unter mir alarmiert. "Die geht mir so was von auf die Nerven. Wenn wir nicht aufpassen, geschieht bald ein großes Unglück", flüstert ein verheirateter Verwandter auf Skype.

Hundert-Minuten-Küsse

Es geht aber auch ganz anders. Für eine spezielle Untergruppe von Romantikern läuft es jetzt richtig Bombe. "Wir haben soooo gute Gespräche", prahlt meine Kollegin, die schon immer härter im Nehmen war. Härter im Sinne von: ausgestattet mit einer Sehnsucht nach Verschmelzung, ohne Ende.

Eine von denen, die davon träumen, sich nachts acht Stunden am Stück in Löffelstellung festzukrallen. Eine von denen, die mit gefühlten Hundert-Minuten-Küssen Wiedergutmachung für all die Defizite aus ihrer Kindheit verlangen.

Man nennt sie auch We-People. We im Sinne von: Wir sind eins und wollen alles nur zusammen. Was eine Charakterfrage ist, wie die Grundsatzfrage: Schlafen mit offenem oder mit geschlossenem Fenster? Sobald sich zwei Nähefanatiker einig sind, kann nicht mehr viel schiefgehen. Wange an Wange, Hand in Hand. Und die Badezimmertür bleibt immer offen. Da heißt es auch noch in Corona-Quarantäne, Woche vier: "Komm, ich drück dich!"

Grüße aus Guantánamo

Wahrscheinlich wird es in absehbarer Zeit ein Medikament gegen das Virus geben. Dann werden wir uns wieder zuprosten, tanzen und lachen ohne Ende – zusammen, in real life! Trotzdem wird die aktuelle Erfahrung unseren Blick auf die Liebe für immer verändern.

Weil niemand weiß, wann der nächste Zoonose-Erreger erfolgreich um die Ecke springt. Auf den nächsten Ernstfall werden wir besser vorbereitet sein. Aber die Möglichkeit einer verordneten Auszeit bleibt, jederzeit.

Mit diesem Worst-Case-Szenario im Kopf muss sich unser Begehren völlig neu orientieren. Da kann er oder sie noch so verführerisch mit den Wimpern klimpern oder vor guten Einfällen sprühen. Man wird sich gut überlegen, mit wem man auf die Insel beziehungsweise in die gemeinsame Wohnung zieht. Weil heute ist es nur eine Adresse – morgen vielleicht schon Knast. (Ela Angerer, RONDO, 20.4.2020)