Die Straßen in Bagdad mögen wegen der Corona-Krise leer sein – doch politisch ist nach wie vor alles in Bewegung.
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Der Irak hat gleichzeitig einen amtsführenden Premierminister, einen gescheiterten designierten, einen designierten sowie einen, der tatsächlich Chancen auf das Amt hat. Adel Abdel Mahdi – seit Ende Oktober 2018 Regierungschef, Ende November 2019 zurückgetreten und mit der Weiterführung der Geschäfte betraut – konnte immer noch nicht ersetzt werden. Mohammed Tawfiq Allawi, im Februar designiert, verkündete im März sein Scheitern. Adnan al-Zurfi, der designierte Premier, hat sein Kabinett praktisch fertig und hätte noch bis 16. April Zeit, es durchs Parlament zu bringen.

Aber da eine Mehrheit für ihn nicht absehbar ist, wird ein neuer Name genannt. Oder, exakter, es taucht ein schon zuvor genannter Name wieder auf: Mustafa al-Kadhimi, derzeit irakischer Geheimdienstchef. Wenn Zurfi durchfällt oder aufgibt und die schiitische Mehrheit im Parlament Kadhimi nominiert, müsste Staatspräsident Barham Salih diesen designieren.

Irakisches Spezifikum

Auch wenn das keiner der Hauptakteure zugeben wird: Bei der Bestellung eines irakischen Regierungschefs handelt es sich immer auch um einen amerikanisch-iranischen Kompromiss. Das ist so, seit Nuri al-Maliki nach den ersten verfassungsmäßigen Wahlen vom Dezember 2005 ein paar Monate später Premier wurde, und dieses irakische Spezifikum hat alle Antagonismen und offen ausgetragenen Kämpfe überdauert. Rutschte Maliki in seiner zweiten Amtszeit nach dem Abzug der Amerikaner 2011 immer mehr in den Orbit Teherans, so waren seine Nachfolger Haidar al-Abadi (2014 bis 2018) und Adel Abdel Mahdi wieder klassische Kompromisskandidaten, mit denen beide – Washington und Teheran – leben konnten.

Seit Jahresende 2019 stiegen jedoch die Spannungen zwischen den Iran-loyalen irakischen schiitischen Milizen und den US-Truppen, die – auf Einladung der irakischen Regierung – zur Bekämpfung des "Islamischen Staats" seit 2014 wieder im Irak sind. Es gab Tote bei Milizenattacken auf US-Militärbasen und bei US-Vergeltungsangriffen auf Milizencamps. Ein gezielter Luftschlag beförderte Anfang Jänner 2020 den wichtigsten irakischen Milizenchef, Abu Mahdi al-Muhandis, und seinen iranischen Oberbefehlshaber, General Ghassem Soleimani, ins Jenseits. Die Falken in Washington wälzen militärische Pläne, wie man diese Milizen "vernichten" könnte.

Aber die US-Pragmatiker sehen das nüchterner, und auch Teheran hat, von der Corona-Krise katastrophal getroffen, wohl doch keine Lust auf eine offene Auseinandersetzung. Nachdem in den letzten Wochen vieles auf eine mögliche Eskalation hindeutete, der die irakische Übergangsregierung völlig hilflos gegenüberstand, könnte sich durch Kandidat Mustafa al-Kadhimi zumindest ein politischer Kompromiss auftun. Wobei keiner der bisher Genannten – von Abdel Mahdi über Allawi und Zurfi bis Kadhimi – die Zustimmung der Protestbewegung hat, die Abdel Mahdi im November zum Rücktritt zwang.

"Amerikanischer Agent"

Adnan al-Zurfi hat das Problem, dass er als zu US-freundlich gilt. Er lebte ab 1994 in Michigan in den USA und kehrte mit der US-Invasion 2003 in den Irak zurück. Naturgemäß war er damals einer jener schiitischen Politiker, die gute Beziehungen zum "Besatzer" pflegten, wie viele Iraker die USA sahen – trotz der die US-Präsenz legitimierenden Uno-Sicherheitsratsresolution 1483 im Mai 2003. 2004 wurde er zum ersten Mal Bürgermeister von Najaf.

Den Ruf des amerikanischen Agenten wurde er nicht mehr los. Die Iraner und ihre Klienten im Irak werfen ihm vor, dass er sich in der Auseinandersetzung zwischen USA und den Milizen nicht klar auf die Seite Letzterer gestellt hat. Zurfi ist ein klarer Verfechter der Allianz mit den USA – auch wenn er sich zuletzt bemühte, seinen Kritikern entgegenzukommen: In einem Interview sagte er, er habe die Zusage, dass die Hälfte der im Irak verbliebenen etwa 5.000 US-Soldaten bis Jahresende abziehen würden; für den Rest werde es nächstes Jahr einen Abzugsfahrplan geben. Im Juni soll es dazu Gespräche geben. Dazu ist anzumerken, dass die USA auch ohne Zurfis Zutun eine Truppenreduktion planten: Es ist Präsidentschaftswahljahr.

Mustafa al-Kadhimi, der Geheimdienstchef, scheint bessere Karten zu haben, auch wenn Zurfi offiziell noch im Spiel und Kadhimi noch gar nicht nominiert ist. Auf ihn hatten sich alle wichtigen schiitischen Fraktionen im Parlament geeinigt, wobei am Mittwoch offenbar die Gruppe von Ex-Premier Haidar al-Abadi diesen Konsens vorerst wieder verließ, dafür schloss sich der schiitische Prediger Muqtada al-Sadr an, der zuvor auf Zurfi gesetzt hatte.

Ungewöhnliche Karriere

Ende März hatte der Nachfolger des getöteten iranischen Generals Soleimani, Esmail Ghani, Bagdad besucht – seitdem geht es in Richtung Kadhimi. Dabei kann man davon ausgehen, dass auch die USA, gerade in Zeiten der IS-Bekämpfung, keine ganz schlechten Beziehungen zum irakischen Geheimdienstchef pflegen. Kadhimi hat das Amt seit 2016 inne und gehört keiner Partei an. Seine berufliche Vergangenheit ist eher ungewöhnlich für jemanden in seiner Position: Der 53-Jährige war 2003 bis 2016 Chef der Iraqi Memory Foundation, die die Dokumente des Unrechtsregimes von Saddam Hussein sammelt, und arbeitete bis 2016 als Journalist und Autor.

Ghani, immerhin der Chef der iranischen Al-Quds-Einheit, soll übrigens bei Großayatollah Ali Sistani in Najaf um einen Termin angesucht haben – und abgeblitzt sein. Nicht nur Sistani verübelt dem iranischen Regime, dass es die irakischen Milizen als Stellvertreterkräfte gegen die USA benützt und dadurch die irakische Stabilität gefährdet. Aber davon abgesehen würde ein Treffen des einflussreichen Mullahs mit Ghani als Zustimmung zu den Plänen der Iraner gedeutet, falls Zurfi tatsächlich abgelehnt wird und die schiitischen Fraktionen Kadhimi – oder auch einen anderen – vorschlagen. Sistani beeinflusst zwar die Politik, aber er macht selbst keine. (Gudrun Harrer, 8.4.2020)