Ocean Vuong, der mit gerade einmal zwei Lebensjahren von Vietnam in die USA übersiedelte, schreibt als queerer Jüngling die spannenden, kulturübergreifenden "Cantos" unserer Tage: ein junger Genius.

Foto: Tom Hines

Es gibt rätselhafte Außenseiter, die aus dem Meer gestiegen sind gleich ozeanischen Ungeheuern. Den US-vietnamesischen Dichter Ocean Vuong (32) wird man dieser Spezies unbedingt zuschlagen wollen. Im ehemaligen Saigon geboren, ist Vuong im Bundesstaat Connecticut groß geworden: ein ungemein sensibles, hellhöriges Kind, das in der Obhut von Frauen aufwuchs und seinen originellen Vornamen einem sprachlichen Lapsus verdankt.

Oceans Mutter pflegte das Wort "Beach" wie "Bitch" auszusprechen. Auf ihren Irrtum hingewiesen, ersetzte die Halbasiatin – ihr Vater war G.I. – "Strand" durch "Ozean". Der Bub erbte den Namen. Immerhin bildet der Pazifik die Brücke zwischen Vietnam und Amerika: ein diffuses, mehr verunklarendes als die Kulturen klar voneinander trennendes Band.

Seine Kindheit und Jugend beschrieb Ocean Vuong in dem Roman "Auf Erden sind wir kurz grandios". Da war Vuong bereits Jungdozent an der Universität von Massachusetts: ein seltsam aus der Zeit gefallener Engel, mehrfach marginalisiert aufgrund von Herkunft und sexueller Queerness.

Wüstes Sammelsurium

Sein Buch war ein wüstes Sammelsurium voller Selbstvergewisserungen, angefüllt mit prunkenden Verweisen auf Roland Barthes und Walt Whitman. Aber es platzte auch vor überschießender Vitalität. Ein Talent ersten Ranges hetzte über den zweiten Bildungsweg direkt hinauf auf den Olymp. Die rohe Kraft von Vuongs Ton scheint wie gemacht für die lyrische Dichtkunst. Dass Hanser die Poesie des jungen Mannes nunmehr auf Deutsch nachreicht, ist ein großes Fest: "Nachthimmel mit Austrittswunden", auf Englisch 2016 veröffentlicht, gleicht einem Merkheft voller Männlichkeitsbilder.

Vuongs Furor ist beispiellos. Den Vater (den er im emphatischen Sinne nicht gehabt hat) zerrt er aus dem Meer heraus – ein Telemach, der Papa Odysseus wie "irgendeine grüne Flasche" den Gezeiten entreißt. In den toten, "meerschwarzen" Augen des Irrfahrers scheint das Abbild einer "Kathedrale" aufgehoben, Bild einer normsetzenden, inaugurierenden Instanz. Den Mund des Vorfahren versiegelt er mit dem Kuss des Erkennens: eine Arbeit, die als Unterpfand der Treue gelten kann, die das lyrische Ich über die Klippe des Todes hinweg seinem ertrunkenen Erzeuger hält.

Arbeit des Ertrinkens

Den Kuss als "Arbeit das Ertrinkens" aber reicht Telemach an seine ungezählten Liebhaber weiter. In dieser unerhörten Urszene blitzt Vuongs verblüffendes Ingenium auf, sein Talent für unverbrauchte Bilder. Mit dem Gedicht Telemach kann Vuong darangehen, Amerika als Ort neu zu verknüpfender, mythischer Beziehungen aufs Geratewohl zu kartographieren. Die Fackel des Begehrens wird weitergereicht, sie geht von Hand zu Hand, wechselt von Mund zu Mund: "Wenn nur der Regen Benzin wäre, deine Zunge / ein brennendes Streichholz & und du dich ändern könntest...", heißt es dazu in Anapher als Bewältigungsstrategie. Das Ovid‘sche Prinzip der Gestaltverwandlung kehrt wieder als Neuschöpfung einer x-ten Moderne.

Das (schwule) Gegenüber kann Echo sein, Schattenwesen, Wiedergänger: In Vuongs wunderbaren Cantos tritt eine flackernde, nervöse Intelligenz in ihr Recht. Anne-Kristin Mittag hat Vuongs Englisch reduktiv und immer diskutabel übersetzt. Die zweisprachige Ausgabe ermöglicht interlineare Vergleiche. Der Ort der Entfaltung dieser Poeme (zwischen Jackie O. und 9/11) ist ohnehin das eigene, intelligible Ich: Ort des schöpferischen Nachvollzugs. (Ronald Pohl, 9.4.2020)