In Istanbul trägt ein Passant Maske. Nehr als 60 Prozent der Corona-Infizierten des Landes leben in Istanbul.

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"Andere Staaten geben ihren Bürgern Geld in der Krise, hier sollen die Bürger dem Staat Geld geben." Seit Tagen wird in den sozialen Medien in der Türkei über eine umstrittene Sammelaktion der Regierung, durch die Corona-Geschädigten geholfen werden soll, diskutiert. Jetzt hat die Debatte ein erstes prominentes Opfer gefordert. Fatih Portakal, beliebtester TV-Moderator des Landes, wurde von Staatspräsident Tayyip Erdoğan wegen Beleidigung des Präsidenten angezeigt. Portakal hatte in einem Tweet über die Sammelaktion des Präsidenten gelästert und angedeutet, bald könnten auch Bankkonten beschlagnahmt werden.

Fatih Portakal ist das Aushängeschild von Fox TV. Der andernorts stockkonservative Murdoch-Sender ist in der Türkei derzeit der wirkungsvollste Oppositionskanal. Das allabendliche News-Programm von Fatih Portakal wird von mehr Leuten gesehen, als bei allen regierungsnahen Fernsehsendern zusammen zuschauen.

Kritische Berichterstattung

Wo in anderen Sendern nur noch Regierungspropaganda stattfindet, wird hier diskutiert, und es werden Informationen verbreitet, die die Regierung am liebsten unter den Teppich kehren würde. So wurde schon früh darüber berichtet, dass viele Mediziner die offiziellen Zahlen der Corona-Fälle als zu niedrig anzweifeln. Breiten Raum nimmt seit Tagen die Debatte um staatliche und kommunale Hilfsaktionen ein.

Schon Tage bevor der Gesundheitsminister offiziell zugeben musste, dass in Istanbul die Zahl der Erkrankten weit überproportional höher sei als im Rest des Landes, hatte Bürgermeister Ekrem Imamoglu Alarm geschlagen. Seit klar ist, dass mehr als 60 Prozent der Corona-Infizierten des Landes in Istanbul leben, fordert er härtere Maßnahmen für die Stadt, zuletzt sogar eine komplette Ausgangssperre, was die Regierung aber verweigert. Um Hilfsbedürftige zu unterstützen, setzte er Wasserrechnungen und andere Zahlungen aus, die normalerweise über die Kommune laufen.

Spendenkonten gesperrt

Gleichzeitig richtete er Spendenkonten ein. Ähnlich aktiv war sein Kollege in Ankara, Mansur Yavas. Erdoğan ließ die Spendenkonten in den von der Oppositionspartei CHP regierten Kommunen sperren und richtete stattdessen drei landesweite Spendenkonten bei den drei großen staatlichen Banken in Ankara ein. Demonstrativ spendete er selbst ein paar eigene Monatsgehälter, seine Minister und andere Prominente mussten nachziehen. Doch das Geld fließt nicht. Seit Tagen kursieren Meldungen, dass Staatsangestellte ihren Leuten gleich mal eine "Spende" vom Lohn abziehen. Wer das nicht will, setzt sich automatisch auf die Kündigungsliste.

Amnestie für Gefangene?

Genau diese Geschichten sind es, die bei Fatih Portakal diskutiert werden. Wenn die Staatsanwaltschaft sich beeilt, kann er schon bald aus dem Verkehr gezogen werden. Er wäre nicht der Erste. Allein in den letzten beiden Märzwochen wurden knapp 500 Ermittlungsverfahren wegen angeblich irreführender Behauptungen in sozialen Medien eingeleitet.

Am Dienstagnachmittag diskutierte das Parlament unterdessen ein Amnestiegesetz für die fast 300.000 Gefangenen, die in Haft der Ansteckungsgefahr oft hilflos ausgeliefert sind. Rund ein Drittel derer soll amnestiert oder in Hausarrest überführt werden. Ausdrücklich ausgenommen sind Journalisten, Menschenrechtsaktivisten und andere, die wegen Kritik an der Regierung sitzen. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 8.4.2020)