Was nicht im Regierungsabkommen steht, steht auch nicht zur Diskussion – für ganz kurze Zeit war das die Lieblingsphrase der türkis-grünen Koalitionäre, um unliebsame Debatten abzuwürgen. Drei Monate lang hat das mehr oder weniger gut funktioniert, seit der Corona-Krise ist dieser Satz bedeutungslos. Das Regierungsabkommen ist Geschichte, genauso wie die Welt, für die es gedacht war. Niemand hätte es für möglich gehalten, dass Regierungen weltweit mit derartigen Summen hantieren müssen, um die Wirtschaft am Leben zu erhalten. Niemand hätte gedacht, dass die Bevölkerung wochenlang nur unter wenigen Bedingungen außer Haus gehen darf und die Reisefreiheit eingeschränkt wird.

Welche Auswirkungen die Corona-Pandemie langfristig auf die Gesellschaft haben wird, lässt sich noch nicht abschätzen. Klar ist allerdings, dass es Unsummen brauchen wird, um den sozialen Frieden zu bewahren. Daher ist jetzt die Zeit für Utopien. Vizekanzler Werner Kogler hat jedes Recht, eine Erbschaftssteuer zu fordern. Die ÖVP hat jedes Recht, diese abzulehnen – wenn sie denn andere Ideen hat, wie man die Krise bewältigen kann.

Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) und Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP).
Foto: APA/ROBERT JÄGER

Ein grober Fehler ist allerdings, dass die Volkspartei nach Koglers Vorstoß reflexartig betont, es brauche "keinen Streit", sondern "Zusammenhalt". Damit insinuiert sie, dass Vorschläge, die nicht der türkisen Linie oder dem "Regierungsabkommen" folgen, "Streit" wären. Natürlich braucht es weder Zank noch Untergriffe à la "Todessteuer", wie die FPÖ die Erbschaftssteuer zynisch nennt. Aber Debatten um die Zukunft des Landes braucht es jetzt dringender denn je zuvor.

Handlungsspielräume

Steht denn im Regierungsabkommen, dass im Fall einer Krise zigtausende Bürger in Kurzarbeit gehen können? Ähneln die Krisenmaßnahmen nicht einem zeitlich befristeten Grundeinkommen? Steht im Regierungsabkommen, dass Unternehmen, die staatliche Hilfen in Anspruch nehmen, keine Dividenden auszahlen dürfen? Natürlich nicht.

Diese erste Welle an Maßnahmen erfolgte rasch und wurde recht einhellig akzeptiert. Über die nächsten Corona-Pakete sollte jedoch eine leidenschaftliche und intensive Debatte stattfinden. Schockmomente eröffnen Handlungsspielräume, die man vorher nicht für denkbar hielt. Frei nach der Globalisierungskritikerin Naomi Klein droht jetzt die Gefahr, dass der hungrige Katastrophenkapitalismus zuschnappt und sich marode Institutionen und Unternehmen krallt, etwa Teile von Gesundheits- und Pensionssystemen. Aber vielleicht ist es bei der Corona-Pandemie ja anders, und in der Krise entstehen neue Ideen, die allen nutzen.

Europaweit diskutieren sogar Konservative, ob nicht Teilverstaatlichungen wichtiger Unternehmen nötig wären. Im Umkehrschluss erhalten auch eher nationalistische Gedanken Aufwind, zumindest in dem Sinne, dass Regionen autark sein müssen. Ob die Zukunft proeuropäisch oder nationalstaatlich ist; ob sich jeder selbst der Nächste ist oder ob wir solidarisch aus der Krise hervorgehen; ob wir Umweltschutz einsparen oder die Wirtschaft mit einem Green New Deal beleben – genau das wird ab jetzt entschieden.

Man kann daher nur an alle Bürger appellieren, sich ihre Meinung zu bilden und sie auch lautstark kundzutun. Und an alle Politiker, sich andere Standpunkte anzuhören und sie frei von bisherigen Urteilen und Vorurteilen neu zu bewerten. (Fabian Schmid, 8.4.2020)