Die in Südafrika entdeckten Schädelfragmente sind der mit Abstand älteste Beleg für den Homo erectus.
Foto: Therese van Wyk, University of Johannesburg

Andy Herries kennt das Ritual bereits. Wann immer einer seiner Studenten auf ein versteinertes Knochenstück stößt, hallt ein Schrei durchs Tal. Dieses Mal fingen die angehenden Urmenschenforscher sogar zu tanzen an. Das stellte sich zunächst als etwas vorschnell heraus. Denn das Schädelstück, das Doktorand Richard Curtis in Händen hielt, schien lediglich zu einem urzeitlichen Pavian zu gehören.

Erst nachdem die gelehrten Schürfer weitere 150 Splitterstücke des Schädels aus dem Dreck einer eingestürzten Höhle geborgen hatten, stellte sich die ursprüngliche Begeisterung wieder ein. "Der Schädel war zu groß und gewölbt, um zu einem Affen zu gehören", erinnert sich der Melbourner Archäologie-Professor Herries: Es musste sich um das Schädeldecke eines Frühmenschenkindes handeln.

Zwei Millionen Jahre alter Homo erectus

Die Begebenheit spielte sich bereits im Jahr 2015 in der 40 Kilometer nördlich von Johannesburg gelegenen Grabungsstätte Drimolen ab. Fünf Jahre später veröffentlichten Herries und Ko-Autorin Stephanie Baker von der Universität Johannesburg jetzt im Wissenschaftsmagazin "Science" die aufsehenerregenden Details des Fundes. Danach gehört die Schädeldecke zu einem Homo erectus und ist rund zwei Millionen Jahre alt. Bislang war niemand davon ausgegangen, dass es bereits damals Exemplare dieser Vormenschenart gab.

Die Ausgrabungsstätte Drimolen rund 40 Kilometer nördlich von Johannesburg.
Foto: Andy Herries

Die meisten der "aufrechten Menschen" waren bislang in Ostafrika gefunden worden. Aber dort wurden sie mehrere hunderttausend Jahre jünger datiert. Falls Herries und Baker mit ihrer Klassifizierung der Schädeldecke eines zwei- bis dreijährigen Kindes recht haben (was in der Fachwelt nicht völlig unumstritten ist), dann haben sie das bisher älteste Exemplar eines Homo erectus gefunden.

Drei Vormenschen zur gleichen Zeit

Darin erschöpft sich die Bedeutung des Fundes allerdings nicht. Denn in der höhlenreichen Region bei Johannesburg wurden auch schon zahlreiche Exemplare des Australopithecus sediba sowie des Paranthropus robustus gefunden: Arten von Vormenschen, die mit ihren kleineren Gehirnen und gebogenen Fingerknochen noch mehr den Affen gleichen. Versteinerte Überreste dieser Spezies werden zwar teilweise wesentlich älter, einige aber auch auf dieselbe Zeit wie das Homo-erectus-Kind datiert. Damit muss inzwischen davon ausgegangen werden, dass sich mehrere Früh- und Vormenschenarten gleichzeitig in der südafrikanischen "Wiege der Menschheit" tummelten.

Paläoanthropologen gehen schon lange davon aus, dass sich der Mensch nicht linear aus seinen affenartigen Urahnen entwickelte. Statt von einem Evolutionsstamm müsse von einem verzweigten Evolutionsgeäst geredet werden, heißt es. Ob sich die verschiedenen Frühmenschen feindlich gegenüberstanden oder ob sie gar – wie über eineinhalb Millionen Jahre später in Europa der Neandertaler und der Homo sapiens – miteinander Kinder produzierten, ist bislang nicht bekannt.

Die DNH 134 getaufte Schädelkapsel dürfte einst zu einem Kind gehört haben.
Foto: Andy Herries, Jesse Martin, Renaud Joannes-Boyau

Erfolgreicher Homo erectus

Wahrscheinlich erwies sich der Homo erectus letztlich als der seiner Umwelt am besten angepasste Frühmensch: Er breitete sich von Südafrika über Ostafrika und den Nahen Osten nach Europa und nach Asien aus. Mit dem Erectus verwandte Exemplare des Homo floresiensis lebten noch bis vor 50.000 Jahren auf der indonesischen Insel Flores.

Eine weitere jüngst veröffentlichte Studien legt nahe, dass sich dasselbe Bild bei der Herausbildung des Homo sapiens eineinhalb Millionen Jahre später wiederholte. Der Australier Rainer Grün und der Brite Chris Stringer stellten jetzt im Wissenschaftsmagazin "Nature" die Ergebnisse ihrer Neuuntersuchung der fossilisierten Knochen eines bereits 1921 in Sambia gefundenen Homo heidelbergensis vor.

Nachkommen über Artengrenzen hinweg

Danach soll dieser vor rund 300.000 und nicht wie bisher angenommen vor rund 500.000 Jahren gelebt haben. Ein Team unter dem Johannesburger Paläoanthropologen Lee Berger hatte vor sechs Jahren eine ganze Höhle voller Knochen in der Wiege der Menschheit gefunden, die er einer neuen Spezies – dem Homo naledi – zuschrieb und die ebenfalls um diese Zeit im Süden Afrikas unterwegs war.

Schließlich stammen aus derselben Zeit auch die ersten Überreste des Homo sapiens in Afrika, sodass auch in dieser späteren Phase der "Menschwerdung" nicht von einer einzigen Linie gesprochen werden kann. Inzwischen sei davon auszugehen, dass sich verschiedene Arten von Frühmenschen über lange Zeit hinweg die Weiten Afrikas teilten, meint die Tübinger Paläoanthropologin Katerina Harvati. Sie hätten auch dadurch zur Entwicklung der modernen Menschheit beigetragen, dass sie über die Artenschranken hinweg miteinander Kinder bekamen. (Johannes Dieterich, 9.4.2020)