Dieser Pulli, diese Mütze, dieser Bart: Benjamin Quaderer hat Humor!

Foto: Jens Oellermanns

Der Erzähler, der früher Johann Kaiser hieß und jetzt inkognito lebt, geht sparsam mit Hinweisen auf seinen aktuellen Wohnort um. Es gibt Berge, Gras, Gras fressende Tiere, Sonne, das gemietete Haus wirkt freundlich mit dem Rasen mäherroboter, den Blumen und der Siedlung rundum. Aber Kaiser hat keine Ruhe, das zu genießen, denn er lebt in der ständigen Angst, ein Sondereinsatzkommando des Fürsten von Liechtenstein könnte ihn aufstöbern und festnehmen. Er ist nämlich ein Datendieb. Vor fast 20 Jahren hat er der liechtensteinischen "Drei Buchstaben Bank" Kundendaten internationaler Steuerhinterzieher abgesaugt und an Deutschland verkauft. Rückblickend schreibt er in dem Exil seine Lebensgeschichte für uns auf.

Und was für eine das ist! Beginnend mit der eigenen Geburt und dem ersten Schrei, der durch den Kleinstaat schwirrend an den Kunstschätzen der Fürstenfamilie vorbei zum Erbspross findet und ihn bibbernd die Bettdecke höherziehen lässt. Ein Omen. Die astronomisch begabte Krankenschwester deutet derweil die Sterne: Geschäftstüchtig, besitzbewusst, ehrgeizig, sicherheitsbedürftig soll der Bub sein. Wie wahr.

Fantastische Wendungen

So fantastisch überdreht Benjamin Quaderers Debütroman Für immer die Alpen startet, geht er fast 600 Seiten weiter, strotzt vor Einfällen und kraftmeiert hochsympathisch mit Formspielereien. Wenn der siebenjährige Johann, um bei der Fernsehsendung Wünsch Dir was für seine favorisierte Familie per Stromvoting abzustimmen, zu Hause sämtliche Dreifachstecker aktiviert und so einen Stromausfall herbeiführt, dringt der Streit der Eltern darüber nur fetzenweise zwischen den Ereignissen im wieder in Gang gebrachten TV zu ihm durch. Die interessieren ihn mehr, doch am Ende des Streits ist die Mutter weg, und die Geschwister müssen ins Heim.

Ähnlich kunstvoll baut Quaderer alle seine Szenen. Ganz locker und luftig ziehen sie erst dahin, gewinnen aber plötzlich ein erdrückendes Gewicht. Oder sie münden in einer unvermittelten Pointe oder eine originelle Wendung – und man weiß nicht, wie das nun so schnell geschehen konnte.

Wenn Quaderer Hannibals Überquerung der Alpen auf den Elefanten mit der des jungen Johann per Moped verquickt, kommt er etwa zum lapidaren Schluss: "Es waren einmal Hinterteile, die schmerzten." Die Alpen überquert Johann übrigens, um seine Mutter in Barcelona zu suchen. Er verliebt sich sofort in die Stadt, und seiner Herkunft beschämt, gibt er sich als Erbe der Bohrmaschinendynastie Hilti aus, um dort folgenschwer in bessere Kreise einzutreten.

Wahrer Irrwitz

Quaderer wurde 1989 in Feldkirch geboren und ist im Fürstentum nebenan aufgewachsen. Mittlerweile treibt er sich viel auf Twitter herum und lebt in Berlin. Mit Hipsterbrille, Hipsterschnäuzer, Hipstermütze und Hipsterpulli sieht er auch genauso aus. Gott sei Dank liest sich das Buch anders.

Die Lorbeeren dafür muss Quaderer teilen. Tatsächlich orientiert sich die Handlung weitgehend an der realen Biografie des liechtensteinischen Datendiebes Heinrich Kieber. Und was in Für immer die Alpen zu irrwitzig klingt, um wahr sein zu können, ist es laut Kiebers autobiografischem Bericht Der Fürst. Der Dieb. Die Daten von 2009 doch. Das Vorbild führt Johann per Camper nach Australien, lässt ihn Jahrzehnte später nach Argentinien flüchten, wo er nach einem Betrug untertauchen will, aber stattdessen brutal gefoltert wird, um schließlich als Angestellter im Digitalisierungsteam der Fürstenbank anzuheuern.

Es gehört zu den weidlich geschilderten Eigenschaften Liechtensteins, dass es in seiner Winzigkeit eine großartige Kulisse abgibt. Bekanntschaft mit Fürst Hans Adam II. hat Johann schon lange zuvor geschlossen: Im Kinderheim und als Aushilfsverkäufer in einem Feinkostladen ist er dessen Mutter Gina begegnet und hat sie als Freundin gewonnen. Dass es ihm leidtue, den Fürsten nun in diese Situation zu bringen, beteuert er in seinen Briefen an ihn folglich, in denen er im Austausch gegen die ge stohlenen Daten staatliche Rache an seinen Peinigern in Argentinien fordert.

Vertracktes Täterprofil

Es bleibt bis zum Schluss spannend. Benjamin Quaderer erzählt einen Schelmenroman. Kleine Lügen steigern sich und ziehen weitere nach sich. Johann ist ein Gerechtigkeitssuchender und ein Selbstgerechter. Einer mit dem Gefühl, er wäre unterlegen und zugleich erhaben und ihm würde von der Welt übel mitgespielt. Fragen nach Recht und Gerechtigkeit analysiert der Wortklauber scharfsinnig, sie gehen aber wieder in einem Strudel aus Paranoia unter. Ein vertracktes psychologisches Täterprofil.

Für immer die Alpen ist ein Feuerwerk. Einmal hinken Fußnoten (!) dem Haupttext hoffnungslos hinterher und werden dabei zur viel spannenderen Geschichte, ein andermal schwärzt Quaderer Besprechungen Johanns mit Geheimdienstlern und dreht diesen an sich mäßigen Witz weiter, bis er plötzlich schon wieder originell wird. So viel kluge Erfindungslust ist eine Freude. (Michael Wurmitzer, 10.4.2020)