Es ist das größte Trauma in der jüngeren Geschichte Polens: Vor genau zehn Jahren, am 10. April 2010, stürzte eine Regierungsmaschine aus Warschau beim Anflug auf den russischen Militärflugplatz Smolensk im dichten Nebel ab. Bei dem Unglück kamen alle 96 Insassen ums Leben. Unter den Toten waren der damalige Staatspräsident Lech Kaczyński und seine Frau Maria, mehrere Abgeordnete und Regierungspolitiker, hochrangige Militärs sowie Vertreter der Kirche – kurzum: eine handverlesene Schar von Angehörigen der polnischen Elite.

Als besonders tragisch wird bis heute die Tatsache empfunden, dass sie alle zu einer Gedenkveranstaltung nach Smolensk unterwegs waren: In der Anfangsphase des Zweiten Weltkriegs, von April bis Mai 1940, waren in einem Wald beim Dorf Katyn, etwa 20 Kilometer von Smolensk entfernt, mehr als 4000 Polen, großteils Offiziere, von den Sowjets erschossen worden. Und just dieses Massaker von Katyn zog 70 Jahre später eine weitere nationale Tragödie nach sich.

Bild nicht mehr verfügbar.

Am 10. April 2010 stürzte die polnische Regierungsmaschine bei Smolensk ab.
Foto: Reuters/Karpukhin

Verschwörungstheorien

Deren Bedeutung für die Politik des Landes ist auch deshalb so groß, weil es sich beim 2010 verunglückten Präsidenten um den Zwillingsbruder von Jarosław Kaczyński handelt, den Chef der nationalkonservativen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) und starken Mann Polens. Dazu kommt, dass der Absturz auch die traditionell Russland-skeptische Stimmung in Polen verstärkt hat: Verschwörungstheorien, die Moskau Sabotage unterstellen, kamen auch aus höchsten politschen Kreisen – und sind nie ganz verstummt.

Seit dem Unglück jedenfalls finden in Warschau jedes Jahr am 10. April große Trauerkundgebungen statt. Ausgerechnet am zehnten Jahrestag aber muss das öffentliche Gedenken auf eine Minimalvariante reduziert werden. Wegen der Corona-Pandemie sind Menschenansammlungen untersagt, am Denkmal für die Opfer will man nur einzeln oder in kleinen Gruppen Kränze niederlegen.

Kein Flug zur Unglücksstelle

Auch eine geplante offizielle Trauerfeier in Smolensk wurde abgesagt. Während Beobachter es schon seit geraumer Zeit für schlichtweg unrealistisch hielten, in Zeiten der Corona-Beschränkungen erneut ein vollgepacktes Flugzeug zur Unglücksstelle zu schicken, wartete Warschau zuletzt mit einer anderen Begründung auf: Schuld sei mangelnde Kooperation der Russen. Polen habe "keine eindeutige schriftliche Antwort auf die Vorschläge für die logistischen Abläufe" erhalten, hieß es vonseiten der Regierung.

Im Zusammenhang mit der Corona-Krise ist die politische Lage in Polen derzeit noch aus einem weiteren Grund angespannt: Genau in einem Monat, am 10. Mai, sollen Präsidentschaftswahlen stattfinden. Die Opposition hätte diese mit Hinweis auf die Pandemie gerne verschoben. Die regierende PiS aber, aus deren Reihen Amtsinhaber Andrzej Duda stammt, will am geplanten Termin festhalten. Duda führt in den Umfragen, zudem könnten der Regierung durch die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise sinkende Beliebtheitswerte drohen.

Vor diesem Hintergrund hat der Sejm, das polnische Abgeordnetenhaus, am Montagabend beschlossen, die Wahl als reine Briefwahl abzuhalten. Der Senat, wo die Opposition die Mehrheit hat, kann das nicht verhindern, wohl aber verzögern. Letzteres würde bereits genügen, um die Regierung unter gehörigen Zeitdruck zu bringen. Diese brachte daher eine mögliche Verschiebung auf 17. Mai ins Spiel, was Experten wiederum als verfassungswidrig bezeichnen. Viele Briefträger sehen zudem ihre Gesundheit gefährdet und drohen mit Streik. (Gerald Schubert, 10.4.2020)