"Zweifel an der Kraft des Wachstums wurden bald laut, als Warnung vor der Ausbeutung der begrenzten Ressourcen und vor der Zerstörung von Natur."

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Jede Zeit hat ihre heiligen Begriffe, über denen ein alles umfassendes Tabu liegt. Es sind Ideen, die der menschlichen Existenz Sinn und Halt verleihen und den Bestand aller irdischen Ordnung garantieren. Stellt sie jemand infrage, gilt er für seine Zeitgenossen als ernster Beschmutzer des Höchsten.

Jahrhundertelang war ein solcher Begriff die Idee Gottes. Gott garantierte dem Menschen Herkunft und Zukunft, Schutz und Erlösung – und am Ende die größte Verheißung von allen: ewiges Leben. Kein Wunder, dass sich die Menschen jederzeit zum Äußersten legitimiert fühlten, wenn es galt, die Ehre Gottes zu verteidigen.

Das irdische Pendant zu Gott war der König, ebenfalls ein auratischer Begriff. Der gesalbte Regent war den Niederungen des Allzumenschlichen enthoben. Es ist heute nur noch schwer vorstellbar, welch ungeheure Erschütterung es unter Zeitgenossen ausgelöst hat, als die französischen Revolutionäre König Ludwig XVI. aufs Schafott legten. Da wurde nicht nur ein Mensch, da wurde ein Weltbild geköpft.

An Stelle von Gott und König

Gott und König sind Geschichte. Die real existierenden Regenten sind in unseren Breiten ebenso Folklore wie die praktizierte Religion. Gott ist tot, er hat zwei Zeitenwenden nicht überstanden, eine ideelle, die Aufklärung, und eine materielle, die industrielle Revolution.

Was aber ist an die Stelle von Gott und König getreten? Das ideelle Vakuum, das der Niedergang der auratischen Begriffe hinterlassen hat, wurde zunächst von den totalitären Ideologien gefüllt. Das "tausendjährige Reich" oder die Verheißung der klassenlosen Gesellschaft waren Heilsversprechen mit stark religiösem Anstrich. Die Begriffe Volk, Partei und Führer waren sakrosankt, jede Kritik daran galt als Verrat am Höchsten.

Faschismus und Staatskommunismus sind ebenfalls Geschichte. Daher noch einmal die Frage: Was ist an die Stelle der großen Begriffe getreten? Gibt es ihn noch, den abgründigen Schauder, der die Mehrheit befällt, sobald jemand versucht, eine heilige Kuh zu schlachten?

Wie zu allen Zeiten beherrscht uns auch gegenwärtig eine Idee, die so auratisch aufgeladen ist, dass sie außerhalb jeder Kritik zu stehen scheint. Es ist das Dogma von der Notwendigkeit grenzenlosen Wachstums. Es gilt alternativlos und unbedingt. Wie konnte es dazu kommen?

Segnungen des Wirtschaftswunders

Ein Begriff, der die gesamte Nachkriegszeit hindurch über jeden Zweifel erhaben war, ist die Idee der Demokratie. Sie war die Garantie dafür, dass man aus den Katastrophen der Vergangenheit gelernt hatte. Kein Nachkriegspolitiker konnte es sich leisten, im Interesse einer anderen Idee die Demokratie infrage zu stellen.

Doch so wie die Menschheit in vordemokratischen Zeiten neben dem Göttlichen das Königlich-Irdische brauchte, so benötigt sie auch heute einen zweiten geheiligten Begriff auf der Ebene des Materiellen. Und wie manifestiert sich das Göttliche sinnfällig auf Erden? Durch ein Wunder, ein Wirtschaftswunder.

Schließlich waren nicht allein demokratische Defizite schuld am Aufstieg der Diktaturen, auch Elend und Armut hatten die Menschen in die Arme der Demagogen getrieben. So kam es gerade recht, dass die soeben erst geheiligte Idee der Demokratie gestützt wurde von den Segnungen des Wirtschaftswunders.

Nun hatten die Menschen schon zu Zeiten von Gott und König die beiden Ebenen des Himmlischen und des Irdischen nie ganz sauber auseinandergehalten. Berief sich nicht jeder König auf sein Gottesgnadentum? Und so verschwammen auch in der Nachkriegszeit die Ebenen.

Demokratie und Wirtschaftswunder erschienen bald als zwei Seiten einer Medaille, vor allem für jene Generation, die das Wunder für selbstverständlich hielt, weil sie hineingeboren wurde. Die Rechte der Partizipation, welche die Demokratie verhieß, wurden zu einem Recht auf Teilhabe am wachsenden Wohlstand, der mündige Bürger war ein kritischer Konsument. Der Kunde ist König!

Notwendigkeit von Wachstum

Das Wunder ist längst zum Alltag geworden, es hat seinen Zauber verloren, doch aus seinem Schoß wurde jener Begriff geboren, der bis heute nichts an Strahlkraft eingebüßt hat. Kein Politiker, der ernst genommen, das heißt, gewählt werden will, kann es sich leisten, an dieser Maxime zu zweifeln.

Es ist die Idee des Wachstums, die von einem wirkmächtigen Tabu geschützt wird. Wer die Notwendigkeit von Wachstum infrage stellt, landet im politischen Abseits der Narren und Spinner. Grenzenloses, unaufhörliches Wachstum gilt als Quintessenz und Motor von Wirtschaft und Wohlstand.

Wo heilige Begriffe herrschen, da ist der Ketzer nicht weit. Zweifel an der selig machenden Kraft des Wachstums wurden schon bald laut, als Warnung vor der Ausbeutung der begrenzten Ressourcen und vor der Zerstörung von Natur. Und die Krisensymptome ließen nicht lange auf sich warten.

Der Regen wurde zum sauren Regen, die Luft war angefüllt mit Blei und ließ den Wald sterben. Die lebensspendende Sonne schien plötzlich bedrohlich durch ein wachsendes Loch in unserer Atmosphäre. Und die Menschen machten sich daran, die Schäden zu beseitigen, sie versuchten, den Regen wieder süß, die Luft wieder sauber zu machen und den Ozonvorhang erneut vor die Sonne zu ziehen.

Zynischer Fatalismus

Doch dann kam eine Wachstumsfolge, die alle bisherigen in den Schatten stellte, weil sie den Kern unserer Lebensweise betrifft: die Klimaerwärmung. Sie ist deshalb anders als alle bisherigen Gefahren, weil ihre Ursache, der Ausstoß von CO2 als Folge der Verbrennung fossiler Rohstoffe, bei so gut wie allen Prozessen unserer industriellen Produktion und Mobilität entsteht. Ohne Verbrennung keine Waren, kein Verkehr und kein Gütertransport.

Noch nie war es so offenkundig, dass weiteres Wirtschaftswachstum nur mehr Erhitzung und Zerstörung nach sich ziehen wird. Dass sich nun wirklich etwas ändern muss, darin sind sich die Gelehrten und Politiker einig.

Doch die einzig naheliegende Konsequenz, aus der Spirale des Immer-mehr auszusteigen, ist nach wie vor ein absolutes Tabu. Solange es nicht angetastet wird, ist auch der Versuch der schwarz-grünen Regierung, die Klimaerwärmung zu stoppen, zum Scheitern verurteilt.

Wer den Tabubruch fordert, wird belächelt und auf die Konsequenzen solchen Frevels verwiesen: Unser Wohlstand, ja die ganze Welt- und Wirtschaftsordnung würden ohne Wachstum kollabieren. Das mag sogar sein, schließlich haben wir es so eingerichtet, basierend auf dem Zwang zu einer Wachstumsdynamik aus Investition und Akkumulation.

Nur liegt dem Argument ein zynischer Fatalismus zugrunde. Das ist in etwa so, als würde man zu einem Drogenkranken sagen: Du hast zwar eine Sucht, die dich körperlich und seelisch ruinieren wird. Aber aufhören, Heroin zu nehmen, darfst du auf keinen Fall! Denn die Entzugserscheinungen wären so furchtbar, dass du besser bei deinem Stoff bleibst.

Stellen wir uns vor!

Die Apologeten des Wachstums wenden in der Regel ein: Wir müssen keineswegs aus dem Wachstum aussteigen, wir müssen nur Ökologie und Ökonomie versöhnen. Wir brauchen gar nicht unsere Mobilität einschränken, wir müssen sie nur umweltverträglich gestalten.

Dazu ein Gedankenexperiment: Stellen wir uns vor, dass in wenigen Jahrzehnten auf der ganzen Welt kein einziges Auto, kein Lastwagen und kein Transportschiff mehr von einem Verbrennungsmotor betrieben wird, sondern von einem emissionsfreien Elektromotor.

Gleichzeitig wird es angesichts des ungebremsten Wirtschaftswachstums weltweit um ein Vielfaches mehr an Transportgütern und Verkehrsteilnehmern geben. Der Bedarf an Strom für die Verkehrsmittel wird ins Unermessliche steigen. Wo soll er herkommen?

Zumal der Energiebedarf für die Riesenserver unserer digitalisierten Welt und für die Klimaanlagen in den überhitzten Städten von Jahr zu Jahr wächst. Die Rohstoffe für die Batterien sind heute schon knapp. Um sie zu gewinnen, ist ein neuer Industriezweig entstanden: der Tiefseebergbau, mit katastrophalen Folgen für die empfindlichen Ökosysteme.

Spirale der Zerstörung

Aus dieser Spirale der Zerstörung gibt es nur einen Ausweg: Wir müssen unsere Mobilität und unseren Konsum einschränken, hier kann es kein weiteres Wachstum mehr geben. Es existieren längst kluge Wirtschaftskonzepte ohne Wachstum. Doch den Mut, sie auch nur in Erwägung zu ziehen, lähmt ein umfassendes Tabu.

Groß war die Empörung, als der Bau einer zusätzlichen Flughafenpiste in Wien gerichtlich untersagt wurde – aus Gründen des Klimaschutzes. Zwar ist das Urteil inzwischen aufgehoben. Doch nicht genug damit! Die heilige Idee Wachstum war ernsthaft infrage gestellt worden.

Um sie erneut zu heiligen, wurden Stimmen in der ÖVP und FPÖ laut, sie in einen sakrosankten Text hineinzuschreiben. Als "Staatsziel Wirtschaft" sollte sie in die Bundesverfassung aufgenommen werden. Damit würde das Wachstum auf eine Stufe mit den Grund- und Menschenrechten gestellt.

Widersprüche

Warum aber ist es derart tabu, das Wachstum infrage zu stellen? Die Antwort kann nur lauten: weil diese Idee von einer ähnlich tabuisierten Aura umgeben ist wie seinerzeit die Begriffe Gott und König. Jede Zeit hat ihre Bezirke, in die das Licht der Aufklärung nicht dringen kann, nicht dringen darf, unreflektierte, irrationale Denkmuster, ohne die der Mensch nicht auszukommen scheint. Man nimmt sie als gottgegeben hin.

Wie oft hört man in den Nachrichten eine besorgte Meldung über die Klimaerwärmung – und wenige Minuten später berichtet derselbe Sprecher im gleich besorgten Ton, dass das Wirtschaftswachstum schwächer als erwartet ausfällt. Bemerkt wirklich niemand in der Redaktion solche Widersprüche?

Gottes Tod hat eine mächtige Lücke hinterlassen, mit der jeder konfrontiert ist: das Wissen um die eigene Endlichkeit.
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Auch zu Beginn der gegenwärtigen Corona-Krise, die dem Wirtschaftsleben eine Zwangspause verordnet hat, wirkte es geradezu gespenstisch, wie nahtlos die Berichte über die Epidemie und die Katastrophenmeldungen aus der Wirtschaft ineinander übergingen. Bis der wirkliche Ernst der Lage klar wurde, schienen Opferzahlen, Infektionsraten und einbrechende Wachstumsdaten Ziffern auf ein und derselben Waagschale zu sein. Das zeugt nicht etwa von einem Mangel an Pietät, sondern von einem obszönen Übermaß daran. Nichts verlangt größere Pietät als ein Tabu.

Die Krone der Schöpfung

Aus welchen Quellen speisen sich solche Residuen des Irrationalen? Was genau versuchen wir vor der enttabuisierenden Kraft der Aufklärung zu schützen? Die Idee des Wachstums ist eine durch und durch religiös imprägnierte Idee.

Da ist zunächst einmal gleich im Auftakt des Alten Testaments ein göttlicher Auftrag an die frisch geschaffenen Menschen: "Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht." (Gen, 1.28)

Folgenreicher noch als der Auftrag zur forcierten Fortpflanzung war die biblische Erlaubnis, sich die Erde und alles, was darauf herumkriecht, untertan zu machen. Bekräftigt wird das noch in einem Psalm, in dem Gott für das gepriesen wird, wozu er den Menschen geschaffen und legitimiert hat:

"Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt. Du hast ihm zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk. Alles hast du unter seine Füße getan: Schafe und Rinder allzumal, dazu auch die wilden Tiere, die Vögel unter dem Himmel und die Fische im Meer und alles, was die Meere durchzieht." (Ps 8, 6–9)

Was für ein Geschenk, was für eine Ermächtigung zur Benutzung eines ganzen Planeten! Wem von höchster Stelle ein solcher Freibrief ausgestellt wird, der darf mit der Erde verfahren, wie er will und wie er es braucht. Die biblische Schöpfungslehre unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkt von den Weltentstehungsmythen der griechischen Antike.

Bei Platon etwa erschafft der Schöpfer, der "Demiurg", die Welt nach dem Urbild der höchsten Idee, und zwar aus einer Materie, die er vorfindet, die immer schon da war. Auf eine solche Materialspende ist der jüdisch-christliche Gott nicht angewiesen. Er hat die Macht, die Welt aus dem Nichts zu erschaffen.

So ist die Natur von Anfang an etwas, das zuerst Gott und dann dem Menschen als Objekt gegenübersteht, vom Schöpfer selbst preisgegeben zur freien Verfügung. Darum braucht der Mensch sich auch nicht als Teil der Natur zu empfinden, Gott selbst hat ihn als Krone der Schöpfung weit darüber gestellt.

Radikaler Jugendkult

Gott mag inzwischen tot sein, nicht aber der unbewusste Nährboden, auf dem er in der menschlichen Seele jahrtausendelang sein Wesen und sein Unwesen entfaltet hat. Sein Tod hat eine mächtige Lücke hinterlassen, schließlich war er die zuständige Instanz für die wohl größte Zumutung, mit der jeder einzelne Mensch von jeher konfrontiert ist: das Wissen um die Endlichkeit seiner Existenz.

Die Verheißung ewigen Lebens war kein schwacher Trost, doch der tote Gott hat sie mit ins Grab genommen. Als Kompensation für diesen ungeheuren Verlust dient heute ein radikaler Jugendkult. Forever young und faltenfrei! Als Udo Jürgens im zarten Alter von 80 Jahren das Zeitliche gesegnet hat, überschlugen sich die Medien in der Bestürzung, dass da ein ewig Junger völlig unerwartet mitten aus dem Leben gerissen wurde.

Ein Arzt, ein fitter, schlanker Mittsechziger, sagte kürzlich in einem Interview: 80 ist doch heutzutage kein Alter mehr! Was für eine beruhigende Perspektive: Ein Mensch im pensionsreifen Alter wird in 15 Jahren ein Alter erreicht haben, das alles Mögliche ist, nur kein Alter.

Frauen bekommen ihre Kinder immer später. 40 ist doch kein Alter mehr für ein Kind! Auch wenn dann meist die Medizin in vitro nachhelfen muss. Immer mehr Frauen lassen ihre Eier rechtzeitig einfrieren. Auf Eis gelegt, altern sie nicht, im Gegensatz zum Körper, in den sie dann irgendwann wieder eingepflanzt werden.

Verdrängung des Todes

Wir haben den Tod aus unserem Leben verdrängt, ihn in die Abgeschiedenheit der Krankenhäuser und Hospize ausgelagert. Und was könnte dieser Verdrängung besser dienen als die Fantasie vom ewigen, grenzenlosen Wachstum? Der Gedanke, dass dabei natürliche Grenzen verletzt werden, muss unter allen Umständen vermieden werden. Denn er würde uns nur an das trostlose Faktum unserer begrenzten Frist auf Erden erinnern.

Der Niedergang der Religion hat hier ein enormes Vakuum hinterlassen, und jedes Vakuum ist eine Sternstunde für Geschäftsleute. Der Mensch mag nicht mehr in den Himmel hineinwachsen, der Markt kennt solche Grenzen nicht, zumal der Esoterikmarkt, der die Leere mit heißer Luft füllt.

Die primitive Einfalt, die auf diesem Supermarkt für Sinnfragen vorherrscht, verrät nur die Bodenlosigkeit der unerfüllten Bedürfnisse. Unlängst habe ich ein Buch in der Auslage eines Esoterikladens gesehen, es hatte den Titel: Der kosmische Bestellservice. Gott soll froh sein, dass er tot ist und dieses Verramschen von Transzendenz nicht mehr erleben muss.

Die Corona-Krise hat das Unvorstellbare möglich gemacht, sie hat von heute auf morgen alle Räder stillstehen lassen. Das Tabu ewigen Wachstums hat uns die Illusion ewigen Lebens vorgegaukelt. Der große Schwindel war in dem Augenblick aufgehoben, als uns ein Virus unsere allzu reale Sterblichkeit vor Augen geführt hat. (Dietmar Krug, 11.4.2020)

Dietmar Krug, "Von der Buntheit der Krähen". 25 Euro / 402 Seiten. Otto-Müller-Verlag, Salzburg 2020.
Cover: Otto Müller Verlag