Oleksij Tschupa kommt aus dem Donbass und gibt in seinem Buch Einblicke in die Region.

Foto: Julia Berezovska-Tschupa

Es wird natürlich viel getrunken, ach was, gesoffen. Kognak, Wodka, alles, was irgendwie knallt. Das erwartet der westliche Leser von Geschichten aus Osteuropa. Das erwarten die Osteuropäer auch von sich selbst. In dem Buch Märchen aus meinem Luftschutzbunker (Haymon) des Ukrainers Oleksij Tschupa ist der scharfe Alkohol aber mehr als ein billiges Stilmittel.

Das fiebrige Delirium, das durch das Trinken verursacht wird, ist so etwas wie ein atmosphärischer Transmitter, über den man in eine unwirkliche Zwischenwelt gelangt. Die Hitze, die in den Sommermonaten des Donbass herrscht, tut ihr Übriges.

Es ist eine Zeit, in der sich Identitäten unter dem grellen Schein der Sonne auflösen und zu schmelzen beginnen. Ihr fiebriges Substrat sucht sich neue Wege. Quälende Fragen und Zweifel steigen aus den Poren der Haut auf. Psychosen und Neurosen werden aus den Synapsen gepresst.

Mit virtuoser verbaler Kraft

Gleich in der Auftaktgeschichte, in der es um ein irrsinniges Gemetzel geht, reißt Tschupa an der Sinneswahrnehmung, mit virtuoser verbaler Kraft und Zerstörungswut. Der Wahnsinn, der sich in Wohnung Nummer 12 ereignet, öffnet dem Leser die Tür zu den Grundfragen des Buches: Es geht um individuelle Träume und Albträume, um das Suchen und Scheitern, um Gewalt und Korruption, um Beziehungsgeflechte, um die soziale und mentale Grundierung des legendenumwobenen und durch Krieg und Krisen durchgerüttelten Donbass.

Ort des Geschehens ist ein altes Haus, gebaut zur Zeit Stalins, eines dieser Häuser, die es zuhauf im Donbass und in der postsowjetischen Landschaft gibt. Tschupa zieht von Wohnung zu Wohnung, von Stockwerk zu Stockwerk und erzählt die Geschichten der Bewohner, die auf unheimliche Weise miteinander verwoben sind. Das Unheimliche, das Groteske und Märchenhafte rühren am Herzen der ukrainischen Literatur, das in den phantasmagorischen Geschichten eines Nikolaj Gogol besonders lebendig schlägt.

Eine Kinderseele

Tschupa begibt sich in diese Tradition, um das literarisch herauszuschälen, was das Wesen des Donbass sein könnte. In einem Interview beschrieb Tschupa dieses Wesen so: "Die Seele des Donbass ist wirklich wie die eines Kindes. Sie will verstanden werden ... Ich habe jetzt einen kleinen Sohn und kann das sehr gut vergleichen – mit den gleichen Babylaunen und dem Weinen."

Tschupa, der selbst aus dem Donbass stammt, nämlich aus der Stadt Makijiwka (in der das Buch angesiedelt ist), ist der Sensor, der dieses Weinen und Gekreische über Jahre aufgenommen hat und es nun mit großer Empathie und Liebe für seine Landsleute in diesen mitreißenden und herzzerreißenden Geschichten sublimiert.

Dazu ruft er eine erstaunliche atmosphärische Bandbreite auf, die von euphorisch über tragikomisch bis hin zu absurd und tief ernsthaft reicht. Auch sprachlich zieht Tschupa, der auch Lyrik verfasst, alle möglichen Register, in denen aber immer ein rotzig-punkiger Ton mitschwingt.

Bandera oder Machno?

Eine der zentralen und längsten Storys des Buches heißt "Good Bye, Lenin". Sie spielt sich im zweiten Stock in und rund um die Wohnung Nummer 19 ab. Ein paar Männer wollten sich des Lenin-Denkmals in ihrer Nachbarschaft entledigen.

Beim ersten Versuch, den Klotz mit dem alten Lada niederzureißen, geht allerdings das schlappe Auto zu Bruch und auch ein paar Knochen. Beim zweiten Versuch fällt Lenin. Und unter dem Denkmal tut sich ein Schatz auf – die Kasse der Kommunisten.

Nun überlegen die Männer, was sie mit dem vielen Geld anstellen sollen. Vielleicht ein neues Denkmal errichten? Aber für wen? Für Bandera? Oder für Machno, der sich zwischen 1917 und 1921 zum Führer einer anarchistischen Volksbewegung aufschwang?

Die ukrainische Geschichte ist voll solcher Aufrührer und Rebellen – deren Erbe einerseits eine nationale ukrainische Einheit schwieriger gestalten lässt, andererseits genau der Kern dieser Einheit ist. Diese Zerrissenheit klopft Tschupa in seinem Buch immer wieder ab.

Immerhin sind wir es gewesen

Wer dieses pralle und wuchtige Buch liest, spürt bei der Lektüre auch ein heraufziehendes Unheil. Denn eigentlich wollen alle Figuren weg und ausbrechen – aus den Umständen, aus dem Leben, aus dem Donbass, der seine eigenen Narben in die Leben seiner Bewohner ritzt.

Mit dem heutigen Wissen wirkt das umso stärker. Schließlich herrscht in der Ostukraine seit 2014 Krieg. Viele mussten ihre Heimat verlassen. So auch der Autor selbst. Tschupa hat sein Buch, das in seinem Heimatland für Furore bei Publikum und Kritik sorgte, allerdings vor Ausbruch des Krieges beendet.

Den Umstand des historischen Schicksals nutzt Tschupa im etwas später entstandenen Nachwort, um dem Buch eine weitere Dimension hinzuzufügen, indem er seinen eigenen Geschöpfen, den Helden und Antihelden des Buches, in einem Luftschutzkeller begegnet, wo er mit ihnen Zwiesprache hält.

Zum Schluss heißt es: "Wir werden kaum hierher zurückkehren, Ruh, und mit Sicherheit werden wir dort nie mehr glücklich sein. Aber immerhin sind wir es gewesen." (Ingo Petz, 11.4.2020)

Oleksij Tschupa, "Märchen aus meinem Luftschutzkeller". 10,30 Euro / 423 Seiten. Haymon, Innsbruck 2020
Foto: Haymon