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Hilary Mantel bei der Präsentation ihres Buches in der Royal Festival Hall in London.

Foto: Reuters / Henry Nicholls

Vielleicht wird man sich dieses Romans auch wegen einer Schlange erinnern. Der vielleicht letzten Schlange im Buchhandel, wie man ihn kannte. Denn in Großbritannien erschien Hilary Mantels Spiegel und Licht Anfang März – und die Briten standen in langen "queues" an, in Warteschlangen, die sich aus den Buchhandlungen weit ins Freie zogen. War doch kaum ein Roman so sehnsüchtig erwartet worden wie dieser, der letzte und dritte Band von Hilary Mantels Trilogie um und mit Thomas Cromwell.

Acht Jahre liegen zwischen Spiegel und Licht und Falken (2012), dem Mittelstück. Der Auftakt Wölfe (2009) erschien auf Deutsch 2010. Auf 1248 Seiten erzählte Mantel in den zwei ersten, vielfach preisgekrönten Romanen, verfilmt von der BBC und auch vom Theater adaptiert – wie das allerdings funktionierte angesichts einer auf vier Dutzend kommenden Zahl von Dramatis Personae? –, von Kindheit, Jugend, den Kreuz-und-quer-Fahrten des um 1485 als Sohn eines Schmieds in Putney, einem ärmlichen Bezirk Londons, geborenen Thomas Cromwell über die Schlachtfelder Europas nach Florenz, wo er in der Bankiersfamilie Frescobaldi unterkommt, die seine intellektuellen und Sprachtalente entdeckt, und Antwerpen, wo er als Kaufmann reüssiert, seinen Erfolgen und seinem Aufstieg in die Zirkel der Macht in Diensten eines englischen Kardinals.

Aufstieg und Untergang

Spiegel und Licht, mehr als doppelt so umfangreich wie Falken, schildert Cromwells letzte vier Jahre. Er, der untersetzte Mann mit der gedrungenen Stupsnase, ist zum wichtigsten, engsten und skrupellosesten Berater Heinrichs VIII. geworden.

Dem sprunghaften, wankelmütigen, oft seinen Neigungen nachgebenden Monarchen, der mehr und mehr von einer Beinwunde geplagt wird und bald zum korpulenten Machtrammbock wird, als den ihn sein Hofmaler Hans Holbein überlieferte, ermöglicht er, alle Capricen durchzusetzen, betreffen sie nun die Religion, den Streit mit Rom, oder Heiraten. Heinrich wurde ja dafür notorisch, dass er seine Ehen gern durchs Schwert beenden ließ.

Cromwell, der Mann aus Putney, der sich von ganz unten bis ganz oben hocharbeitete, bis zum Lordsiegelbewahrer und allmächtigen Mann, der in Europa ein Spionage- und Zuträgersystem dirigiert, auf Augenhöhe mit Königen und deren Botschaftern verhandelt, deren Rankünen durchschaut und doppeltes Spiel durchkreuzt, wird zum Schrecken des englischen Hochadels. Das "alte Blut" betrachtet den Tudor auf dem Thron – die Dynastie war erst seit 50 Jahren an der Tete – noch immer als Usurpator. Cromwell ist Spiegel und Licht des Monarchen.

Einen Adeligen nach dem anderen lässt Cromwell exekutieren, verteilt deren Häuser, Ansitze, Ländereien. Bis eine Krankheit seinen Gegnern zupasskommt. Sie können mit Erpressung und Einschüchterung einige aus Cromwells engstem Kreis auf ihre Seite ziehen. Im Sommer 1540 wird er unter konstruierten Vorwürfen im Tower inhaftiert und am 28. Juli jenes Jahres hingerichtet.

Letzte Gnade des Königs, der ihn eiskalt hat fallenlassen, weil er ihm die (vorletzte) arrangierte Eheschließung mit Anna von Kleve nie vergaß, vor allem die Demütigung durch diese, als sie den verfetteten Monarchen erstmals sah: durchs Beil, nicht durch Feuer.

Historie und Psyche

Spiegel und Licht ins historisch-eskapistische Schwartenfach einzuordnen, neben Lohnschreiber trivialen Schmonzes wie Ken Follett, Rebecca Gablé, Sabine Ebert oder Philippa Gregory, greift zu kurz. Mantels Prosa ist auf vielen Seiten von imposanter Dichte, nicht selten geradezu brillant.

In diesem Schlussteil fällt stärker denn je ins Auge, dass die Zeit der Lügen, in der Cromwell lebte, der aktuellen Post-Truth-Ära der Falschinformationen, Trolle und Bots stupend ähnelt. Das unterstreicht auch Mantels ungewöhnlicher Kunstgriff, das Buch im Präsens zu schreiben, nicht in der Vergangenheitsform.

Das zweite Merkwürdige: Dies ist im Grunde durch und durch ein Männerroman. Frauen sind bei Hilary Mantel nicht einmal Komparsinnen im Spiel der Rankünen, Intrigen, Bestechungen und Beseitigungen.

Sie sind Schachfiguren, die dem Regime der oft rüden und brutalen Väter, Brüder und einfallslosen Vormünder widerspruchslos sich fügen. Sie werden lieblos verschachert und dienen lediglich als fruchtbare Austrägerinnen von Söhnen. Blass sind sie, kaum mehr als Karkassen, wie es an einer Stelle heißt.

Verzehrt und zerstört

Diese Epopöe, so süffig sie sich liest, ist am Ende allerdings, und vor allem im Finale, mehr als einen Tick zu lang geraten. Ohne jeden Zweifel jedoch hat Hilary Mantel mit dieser ausgreifenden, opulenten und hochintelligent konstruierten Romantrilogie eines der faszinierendsten und eindringlichsten Charakterogramme der erzählenden Literatur der letzten ein Dutzend Jahre geliefert, das Bild eines Mannes, der Macht will, von ihr verzehrt und zerstört wird und untergeht, der sich die Hände bis zum Ellenbogen blutig macht und dessen Psyche davon nachhaltig durchlöchert wird. (Alexander Kluy, 11.4.2020)

Hilary Mantel, "Spiegel und Licht". Übersetzt von Werner Löcher-Lawrence. 32,90 Euro / 1104 Seiten. DuMont-Verlag, Köln 2020