Für Betroffene, für Menschen, die Angehörige verlieren, für medizinisches Personal sei Covid-19 wahrnehmbar. "Für alle anderen kann man versuchen, das Abstrakte darzustellen", sagt Niki Popper.

Foto: TU Wien / dwh / Nikolaus Popper

Es ist momentan nicht so einfach, Niki Popper zu erreichen. Während das Land im Lockdown ist und seine Sozialkontakte reduzieren soll, kann sich der Wissenschafter aus Wien vor Anfragen aus Medien, Politik und Wissenschaft kaum retten. "Es war schon mal weniger los", sagt Popper lapidar.

Popper ist Simulationsforscher an der TU Wien und Mitinhaber der Forschungsfirma dwh (kurz für "Drahtwarenhandlung"). Die bietet Simulationsmodelle an, unter anderem für Epidemien. Der 46-Jährige rechnet für den Wiener Krankenanstaltenverbund und gehört dem Expertengremium der Regierung an. Wenn man in den vergangenen Wochen Sätze gehört hat wie "Eine Reduktion der Sozialkontakte um x Prozent würde die Fallzahlen um y Prozent senken", steckten meist er und sein Team dahinter.

Um solche Aussagen treffen zu können, arbeiten Wissenschafter wie Popper mit Simulationsmodellen. Das sind vereinfachte, formale Abbildungen von dynamischen Prozessen, die dann als Computerprogramm in eine Simulation gegossen werden.

Ganz grob gesagt, gibt man links bestimmte Parameter ein und bekommt rechts Antworten auf seine Fragen heraus. In der Mitte versucht man die Prozesse zu gut wie möglich abzubilden.

Simulationen haben immer einen Zweck. Das können Prognosen sein, oft aber auch nur der Vergleich unterschiedlicher Handlungsstrategien oder Szenarien wie "Was passiert, wenn wir die Geschäfte wieder aufmachen?".

"Flatten the Curve"

"Unsere Modelle können in dem Fall nicht die Zukunft voraussagen, niemand kann das", sagt Popper. Zum einen sind die Daten unvollständig, Stichwort Dunkelziffer. Aber ebenso wichtig: Menschen beeinflussen mit ihrem Verhalten die Zukunft. Das macht die Modellierung komplizierter und sorgt dafür, dass Aussagen nur für einige Tage verlässlich sind und mit steigender Zeitleiste unsicherer werden.

An der Corona-Krise kann man beispielhaft sehen, wie Datenvisualisierungen unsere Sicht auf ein Phänomen prägen. Das "Flatten the Curve"-Diagramm ist wahrscheinlich jetzt schon eine der einflussreichsten Datenvisualisierungen aller Zeiten. Ganz ohne Probleme ist das nicht.

Der Statistiker Nate Silver wies darauf hin, dass die öffentliche Wahrnehmung einer Pandemie stark von Visualisierungen abhänge, deren zugrunde liegende Entscheidungen (stelle ich Wachstum als Exponential- oder Logarithmus-Funktion dar? Setze ich die Zahl der Toten in ein Verhältnis zur Einwohnerzahl?) willkürlich gewählt seien.

Nichtsdestoweniger braucht es diese Kurven, Torten und Kreise und die ihnen zugrunde liegenden Modelle zur Einordnung, auch gesellschaftlich gesehen. "Das Virus ist unsichtbar, wir können es nicht erfassen", sagt Popper.

Für Betroffene, für Menschen, die tragischerweise einen Angehörigen verlieren, für medizinisches Personal sei Covid-19 unmittelbar wahrnehmbar. "Für alle anderen kann man versuchen, das Abstrakte darzustellen."

Jazz und Mathematik

Der Mann, der die Modelle baut und sie auch noch erklären kann, wird 1974 in Wien geboren. Popper inskribiert technische Mathematik, Philosophie und Jazztheorie. Die letzten beiden lässt er irgendwann sein, die Liebe zum Saxofonspielen bleibt. Popper wechselt in die Praxis, wird Wissenschaftsjournalist beim ORF, produziert später selbstständig fürs Fernsehen.

Ab 2008 beginnt er Epidemiemodelle für Pneumokokken zu entwickeln, 2010 gründet er gemeinsam mit einem Partner die Forschungsfirma dwh. Popper hat an vielen wissenschaftlichen Publikationen mitgewirkt, nach der Rückkehr in die Wissenschaft folgte 2015 ein Ph.D.

In Österreich werden mit Modellen aus Poppers Gruppe zum Beispiel die Referenzzahlen für die Masern- und Polio-Impfung berechnet, auch in anderen Bereichen wie in der Logistik werden sie genutzt.

Eine weiteres Learning der letzten Wochen: Der Mensch ist nicht dafür gemacht, komplexe Systeme und bestimmte mathematische Phänomene sinnlich zu erfassen. Für die exponentielle Steigerung gibt es das Beispiel des Schachbretts und des Reiskorns: Lege ich ein Korn auf das erste Feld und verdoppele seine Zahl mit jedem weiteren, brauchte ich beim Feld 64 mehrere Welternten des Getreides.

Das Problem ist aber nicht nur die menschliche Vorstellungskraft. "Bei Epidemien sind die nächsten sieben bis 14 Felder bereits gelegt, wir sehen es nur noch nicht", sagt Popper. "Wir haben aktuell eine Verzögerung von ein paar Tagen Inkubationszeit bis zu drei Wochen, bis die Menschen zum Beispiel auf der Intensivstation landen." Das gelte es für die Einschätzung sowohl für die Folgen der Bewegungseinschränkungen, aber natürlich auch die einer Lockerung zu beachten.

Nicht richtig oder falsch

Es gibt nicht das eine richtige Modell, genauso wenig wie es eine richtige Visualisierung gibt. "Wenn ich ein reales Objekt vor mir liegen habe und von verschiedenen Seiten drauf schaue, bekomme ich auch ein dreidimensionales Bild davon", sagt Popper.

"Ähnlich ist es, wenn ich unterschiedliche Modelle für einen Prozess nutze." Bei der Modellierung für Covid-19 gibt es auch verschiedene Zugänge. Einer läuft über Differenzialgleichungen: Dabei unterteilt man die Bevölkerung in gesunde, infizierte und immune Personen / Verstorbene.

Die zeitliche Veränderung wird dann über Gleichungen festgelegt. Ein anderes Werkzeug bilden agentenbasierte Netzwerkmodelle, wo das Verhalten der einzelnen, virtuellen Menschen und deren Beziehungen simuliert werden. Jedes Modell hat seine Berechtigung und beleuchtet unterschiedliche Aspekte.

Dazu gehören die kurzfristige Prognose, ein Vergleich zu anderen Ländern, die Auswirkungen unterschiedlicher Strategien und lokal begrenzte Fragestellungen wie "Was passiert, wenn ich in Wien die Schulen wieder öffne?". Das wirklich Spannende sei, die Fragestellung mit den unterschiedlichen Modellen anzuschauen und die Ergebnisse zu vergleichen, sagt Popper.

Modelle können die Realität nie vollständig abbilden, das ist auch nicht ihre Aufgabe. Im Englischen gibt es den schönen Satz: All models are wrong, but some are useful.

Abhängig von der Fragestellung

Wie kompliziert ein Modell sein sollte, wie viele Parameter sinnvoll sind, kommt auf die Fragestellung an. "Mehr" ist dabei nicht unbedingt besser: Um Grundkonzepte wie die Herdenimmunität zu erklären, reichen manchmal schon sehr einfache Modelle. "Es gibt das Prinzip, dass ein Modell gerade so kompliziert sein sollte, dass es die gestellte Fragestellung beantworten kann."

Was man an den Endergebnissen wenig sieht: wie viel interdisziplinäre Vorarbeit in ihnen steckt. Wenn ich berechnen will, wie viele schwere Krankheitsverläufe oder Covid-19-Tote es gibt, muss ich erst einmal sinnvolle Definitionen dafür finden.

Ein großer Teil der Arbeit von Poppers Kollegen besteht deshalb darin, mit Virologen oder Experten anderer Fachrichtungen zu reden und die richtigen Fragen zu stellen. "Mathematiker, Informatiker und Simulationsexperten können gut formalisieren, Prozesse verstehen und dann auch rechnen", sagt Popper. "Für alles andere brauchen wir Expertise von außen." (Jonas Vogt, 11.4.2020)