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Der fast leere Stephansdom in Wien: Ostermessen wird es im Corona-Pandemiejahr nur über Video geben.

Foto: Reuters / Lisi Niesner

Zwei Twitter-Meldungen vom Palmsonntag: "Die Hl. Messe aus dem leeren Stephansdom ist schön, traurig und aufmunternd zugleich, Danke, @KardinalWien", lautet die eine. Die andere (übersetzt): CNN – Mindestens 14 Staaten nehmen religiöse Versammlungen von der Anweisung aus, zu Hause zu bleiben." Gemeint sind US-Bundesstaaten.

In einem TV-Ausschnitt ist eine dichte Wagenkolonne zu sehen, die nach einer Messe einen Parkplatz in Ohio verlässt. Der CNN-Reporter fragt eine Frau in ihrem Auto, ob sie nicht Angst habe, sich selbst und danach andere anzustecken. "Ich kann nicht krank werden, das Blut Jesu schirmt mich ab", antwortet sie fast aggressiv.

Diese Antwort lässt sich wohl in alle Weltreligionen und -gebiete übersetzen, mit den jeweils eigenen Inhalten: Bei den schiitischen Pilgern, die trotz Ausgangsbeschränkungen in Massen in den Kadhimiya-Schrein in Bagdad einziehen, ist es das Blut ihrer Märtyrer, das sie schützt; in Israel hofften manche Ultraorthodoxe, die Ankunft des Messias noch vor Pessach werde Corona beenden; in Marokko bezeichnete ein salafistischer Prediger die Vorkehrungen der Behörden als "Blasphemie"; in Ägypten glauben manche Kopten, dass der den Gläubigen aus einem gemeinsamen Löffel verabreichte Messwein nicht gefährlich, sondern vielmehr heilend sei. Die Liste ließe sich fortsetzen, mit Beispielen auch aus der nichtmonotheistischen Welt.

Corona-Cluster

Tatsächlich sind in etlichen Ländern Corona-Cluster auf religiöse Veranstaltungen zurückzuführen. Es ist einen Gedanken wert, darüber nachzudenken, was es über Österreich aussagt, dass unsere Cluster einer Après-Ski-Partykultur zu verdanken waren.

Gegen Lee Man-hee, den Gründer der Shincheonji-Kirche Jesu in Daegu, soll wegen Mordes ermittelt werden: Seine trotz Behördenerlass abgehaltenen Gottesdienste, an denen bereits Infizierte teilnahmen, waren ein Zentrum der Ausbreitung von Covid-19 in Südkorea.

In Pakistan war es ein Treffen von 250.000 Angehörigen der sunnitischen fundamentalistischen Gruppe Tablighi Jamaat Mitte März in Raiwind, südlich von Lahore. Von dort breitete sich eine Ansteckungswelle nicht nur in Pakistan und unter asiatischen Muslimen aus, sondern sie schwappte bis in den Gazastreifen, Nigeria oder Kirgistan.

Zu Hause beten

Oft sind es nicht einmal konkret die religiösen Versammlungen, sondern die Gemeinschaften an sich, die in ihrer hermetischen Welt glauben, dass die äußere, Corona-verseuchte, ihnen nichts anhaben kann. So sind etwa die Infektionsraten unter ultraorthodoxen Juden sowohl in Israel als auch in entsprechenden Gemeinden in New York überdurchschnittlich hoch.

Und manchmal leisten staatliche Instanzen dem Vorschub, wie teilweise in den USA, wo ja evangelikale Prediger sogar zum Inventar des Weißen Hauses gehören. In Israel war es ausgerechnet der Gesundheitsminister, der die Regeln unterminierte, indem er selbst in eine Synagoge ging, als sein Ministerium das bereits untersagt hatte. Abgesehen davon, dass auch Politiker nicht vor Aberglauben gefeit sind: Manchmal haben sie vor ihrer Klientel, ihren Wählern, wohl ganz einfach auch Angst.

Zu den islamischen Institutionen im Nahen Osten ist zu sagen, dass sie – genauso wie jene aller Religionen in Europa – in den meisten Fällen mit dem Staat eng kooperieren. Muezzins in der gesamten islamischen Welt rufen heute die Gläubigen auf, zu Hause zu beten. Der Islam gibt ihnen ganz klar das Rüstzeug dazu: Krankheiten müssen vermieden und bekämpft werden.

Soziale Distanz als religiöse Pflicht

Der sunnitische "Fiqh-Rat" (Fiqh ist die Jurisprudenz) im Irak hielt bereits Ende Februar fest, dass gesundheitlich gefährdete Bevölkerungsgruppen nicht in die Moscheen gehen müssen. Und der höchste schiitische Ayatollah im Irak, Ali Sistani, erließ Mitte März gleich eine Serie von Fatwas, die das Befolgen der Sicherheitsanweisungen, etwa der "sozialen Distanz", zur religiösen Pflicht erklären.

Dessen ungeachtet spazierte der einflussreiche schiitische Mullah Muqtada al-Sadr weiter in die schiitischen Schreine, um sie so vor dem Schließen zu bewahren. Die Schreine waren auch ein großes Thema im Iran, wo die Behörden ebenfalls einen Kampf mit religiösen Hardlinern ausfechten mussten.

Manchmal sind die islamischen Instanzen sogar strenger als der Staat. Indonesiens Ulema-Rat erließ eine Fatwa, die Reisen zum Ende des Ramadan verbietet. Sie kam einen Tag, nachdem die Regierung diese Reisen erlaubt hatte. Ende Mai hat die islamische Welt ein ähnliches, ungleich größeres Problem als jetzt die christliche oder postchristliche mit Ostern: Nach dem Fastenmonat Ramadan, zum Opferfest, begeben sich Millionen Menschen weltweit auf Verwandtenbesuch.

Für Saudi-Arabien stellt sich die Frage, wie es mit der Hajj, der Wallfahrt, umgehen wird, die heuer in den Juli fällt: Alle Zeichen deuten auf Absage, nachdem schon die "kleine Wallfahrt" (Umrah), die das ganze Jahr über absolviert werden kann, gestoppt wurde. Luftaufnahmen zeigen den Platz vor der Kaaba fast menschenleer.

Epidemien im 19. Jahrhundert

Abdulaziz Ibn Saud hat Mekka 1924 seinem zukünftigen Staat einverleibt, aber in den Jahrhunderten davor erlebte die Stadt, unter haschemitischer Herrschaft, alle möglichen Krisen. Was Epidemien anbelangt, war das 19. Jahrhundert besonders schlimm. Die neuzeitliche Steigerung der Pilgermengen wurde mit einer Häufung von Krankheiten bezahlt, gefürchtet war vor allem die Cholera. Der Ausbruch 1846 allein forderte geschätzte 15.000 Tote.

Skurrilerweise gibt sich auch der "Islamische Staat" – wenngleich er kein Territorium mehr hat – staatstragend. Seine "Scharia-Direktiven" für Corona reichen von der Empfehlung, verseuchte Gebiete – zum Beispiel Europa – zu vermeiden, sich beim Gähnen den Mund zuzuhalten und sich die Hände zu waschen. Wobei das IS-Kommuniqué schon auch anmerkt, dass Krankheiten nicht von selbst zuschlagen, sondern auf den Befehl Gottes.

Das ist ja die vielleicht schwierigste Frage überhaupt, und Religiöse wandeln da auf einem schmalen Pfad: Nein, natürlich sei das Coronavirus keine Strafe Gottes – aber sagen will er uns ja doch etwas damit, ist sozusagen der aufgeklärte Kompromiss. "Dass Gott durch Krisen bei uns anklopft und uns zum Nachdenken einlädt, das glaube ich fest", schreibt Christoph Kardinal Schönborn in seiner Heute-Kolumne.

Reset-Taste für die Welt

Eine Stufe weiter gehen jene, die glauben, dass Gott mit der Pandemie sozusagen auf eine Reset-Taste für die Welt drückt: Anders kapieren sie es nicht, die Menschen! Diesen Gedanken kann man jedoch durchaus auch unter Nichtreligiösen, Ökologiebewegten finden: Da wird die Taste sozusagen von der Natur selbst gedrückt.

Im Irak erklärte Muqtada al-Sadr Corona auf Twitter zur "Botschaft vom Himmel" an alle Staaten, die gleichgeschlechtliche Ehen erlaubt haben: Sie müssten ihre Gesetzgebung zurücknehmen. Das können natürlich "Unsrige" auch, man erinnere sich an den Windischgarstner Pfarrer Gerhard Maria Wagner, der, bereits im 21. Jahrhundert, den Hurrikan Katrina und das Erdbeben in Haiti als "Strafen Gottes" einordnete, Letzteres für den Voodoo-Kult.

Oder sind gar schon die apokalyptischen Reiter unterwegs, kündigt Corona den Weltuntergang an, gemeinsam mit der Heuschreckenplage in Ostafrika und den Bränden in Australien?

Die New York Times zitiert einen Evangelikalen, der mit der Wiederkehr des Messias konkret 2028 rechnet: Da jährt sich die Verlegung der US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem zum zehnten Mal.

Auf Twitter gibt es sogar den Hashtag #coronapokalypse: Beruhigenderweise gefällt den meisten, die ihn benützen, einfach nur das Wortspiel. Sie schreiben eher über Klopapier als über Gott. (Gudrun Harrer, 11.4.2020)